Alexander Schöppner
Bayrische Sagen
Alexander Schöppner

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Die Dicke Agnes

Als man zählte nach des Herrn Geburt fünfzehnhundert Jahre und noch zehn darüber, lebte in der alten und weltberühmten Freistadt Regensburg die Tochter eines Blechschmieds, die man gewöhnlich das »Liebfrauenbildlein« nannte, weil sie über die Maßen schön war von Antlitz und Gestalt. In der Taufe hatte man ihr den Namen Klara beigelegt, und als sie herangewachsen war, pflegte sie Gottesfurcht und Ehrbarkeit, wie es einer feinen Jungfrau ziemt.

An einem Sonntag, als sie aus der Frühmesse heimkehrte, begab es sich, daß ihr ein stattlicher Junker in den Weg kam; der war in Samt und kostbares Rauhwerk gekleidet und trug auf der Brust eine schwere goldene Kette und auf dem Haupt ein Barett mit wehendem Federschmuck. Und als er das holdselige Mägdlein sah, blieb er stehen und schaute ihr fast betroffen längs der Straße nach, bis sie um die Ecke ging.

Am nächsten Montag war Klärchen nach ihrer Gewohnheit zu St. Kassian in der Messe, und als sie aus der Kirche trat, stand der Junker da und nickte ihr einen Gruß zu. Und am Dienstag grüßte er wieder und schob ihr unversehens ein Brieflein in die Hand. Darüber errötete die Jungfrau hoch und meinte eine glühende Kohle zwischen den Fingern zu halten. Doch wollte sie das Brieflein nicht fallen lassen, um des Geredes der Leute willen. Sie verbarg es daher sorglich im Busentuch, mit dem Vorhaben, es daheim dem Feuer zuzutragen. Und wenn sie so getan hätte, wäre ihr großes Leid erspart gewesen.

Im Kämmerlein aber wurde sie anderen Sinnes, denn es gefiel ihr das zierlich gefaltete Pergament; besonders aber das goldgestickte Band, mit dem es umwickelt war. Und als sie so sann und das Brieflein hin und her drehte, ließ sich plötzlich ein Stimmchen vernehmen wie das Zirpen einer Grille, und dieses sprach: »Nun, törichte Dirne, was zögerst du lange? Frisch dran! Die toten Buchstaben beißen nicht.« Wer aber so redete, das war ein winziges, kaum zollhohes Weiblein, das in einer Ecke der Kemenate kauerte.

Die Jungfrau entsetzte sich anfangs ob des Spuks; weil aber die Kleine ohne Arg schien und gar freundlich tat, so ließ sie sich bereden und griff nach der Schere. Und in dem Augenblick, da das Band losging, wuchs das Weiblein um eine Fingerlänge in die Höhe.

Am Mittwoch ging Klärchen nicht in die Messe, sondern riegelte sich in ihrer Kammer ein, als wäre sie unwohl. Mittlerweile aber suchte sie den Brief wieder hervor und vernahm, wie der Junker von heftiger Liebe gegen sie entbrannt sei und nimmermehr von ihr lassen könne und um sie dienen wolle als ein ehrbarer, redlicher Freier. Solches stand mit gar schmucken Worten im Brief geschrieben. Und während sie noch las, erschien das Weiblein abermals und rief: »Horch auf, mein Töchterchen! Hörst du nicht Sporenklang auf der Gasse?«

Und Klärchen eilte ans Fenster und sah den Junker einhergehen. Der gewahrte sie, wie sie hinter dem Vorhang lauschte; denn die verliebten Fante haben Falkenaugen. Und er grüßte herauf, und sie grüßte hinunter. Das Weiblein aber kicherte ins Fäustchen und wurde unter dem Lachen einen Werkschuh hoch, wo es doch eben nur fingerlang gewesen war.

Donnerstag, während des Essens, zankte der Blechschmied mit seiner Tochter und sagte: »Du träumst bei lichtem Tag und wirfst mehr Salz in die Suppe, als meinem Gaumen lieb ist, und die Katze stiehlt vor deinen Augen das Fleisch aus dem Topf.«

Gegen Abend, im Zwielicht, kam das Weiblein wieder und trug ein Kästchen von Ebenholz unter dem Arm und sprach: »Nimm hin! Es ist eine Gedenkgabe von deinem Freier.«

Klärchen aber trat zurück und entgegnete: »Hebe dich von dannen, Versucherin! Eine tugendsam Jungfrau soll nicht Geschenke nehmen.«

Da zog das Weiblein murrend ab; an der Tür wandte es sich jedoch nochmals um und sagte: »Geschenkt ist wohlfeiler als gekauft! Besinne dich wohl, und sieh, was du verschmähst.«

Mit diesen Worten öffnete es das Kästchen, und – o Herrlichkeit! – drinnen lag ein prachtvolles Halsgeschmeide von eitel Gold und reich mit Perlen und Edelgestein besetzt. Das flimmerte und funkelte Klärchen gar verführerisch in die Augen, und sie nahm das Kästchen und trat vor den Spiegel und gefiel sich überaus in dem Putz. Das Weiblein klopfte dazu in die Hände und rief: »Jetzt magst du die Nase so hoch tragen wie des Hausgrafen Monika.« Am Freitag war der Handel so weit gediehen, daß der Junker im Finstern über die Gartenmauer stieg und zu Klärchen in die Laube kam. – Das Weiblein war heute schon eine Elle hoch. – Der Junker koste gar traulich mit der Blechschmiedtochter und sagte ihr noch viel schönere Dinge, als er im Brief geschrieben hatte. Inzwischen hielt das Weiblein Wache am Eingang der Laube, und – siehe da! – bei jedem Liebeswort und bei jedem Händedruck wuchs es um einen Zoll in die Höhe und einen Zoll in die Dicke.

Und als am Sonnabend das Paar aus der Laube trat, stand ein übermenschlich großes Weibsbild da, vierschrötig wie ein Lanzenknecht und an Umfang einer Biertonne gleich. Klärchen erschrak und schrie: »Was schaffst du hier, du Ungestalt?«

Die Riesin aber schlug eine helle Lache auf und entgegnete: »Wie, mein Töchterchen, kennst du deine alte Freundin nicht mehr? Ich bin die Dicke Agnes, und du hast mich wohl gehalten und ernährt, daß ich, vorerst ein winziger Däumling, so hochgewachsen und feist geworden bin.«

Es ist aber zu wissen, daß die Dicke Agnes ein höllisches Gespenst war, das um diese Zeit in der Stadt sein Unwesen trieb. Das machte sich an die Leute, anfänglich in Gestalt eines daumenlangen Weibleins, und verlockte sie vom rechten Weg durch jene Redensarten und Gemeinplätze, womit das Laster sein Tun zu beschönigen pflegt. Und wo es nicht kräftig abgewiesen wurde durch Gebet und frommen Sinn, da blieb es hängen gleich einem Vampir und saugte sich voll und gedieh und wuchs heran zum ungeschlachten Monstrum.

Klärchen, das arme Klärchen: Nachdem der vornehme Junker eine Zeitlang seine Kurzweil mit ihr gehabt hatte, verließ er sie, unbeirrt von ihren Vorwürfen und Tränen, und ehelichte die Tochter eines reichen Geschlechts. Ähnlich erging es anderen Jungfrauen, die sich mit der Agnes eingelassen hatten, und manche von ihnen fielen so tief, daß man später ihre Namen im Register des Reichstagsprofosen verzeichnet fand, dem bekanntlich die Obhut über die fahrenden Dirnen anvertraut war.

Was das Mannsvolk anbelangt, so nahm das Gespenst sein Augenmerk besonders auf die Ladenburschen und sonst junge Leute, die ungezähltes Geld im Bereich ihrer Finger hatten. Denen blies es ein: »Ein paar Pfennige schaden deinem Herrn nicht – er spürt's nicht. Ein Hellerchen ist noch lang kein Tälerchen!« Oder: »Ein dummes Roß, das am Barren steht und nicht frißt!« und wie die Sprüchlein alle lauten, womit angehende Gauner und Diebe ihr Gewissen zum Schweigen zu bringen suchen. Und etliche von diesen betörten Gesellen begannen mit einem Griff in den Ladentisch und endeten als Straßenräuber.

Solch einreißendes Verderbnis machte dem wohlweisen Rat großes Bedenken, und man dachte allen Ernstes darauf, wie man des Spuks Meister werde. Mit leiblichen Waffen aber konnte man ihm nichts anhaben, und so ging man denn die ehrwürdigen Väter Minoriten um Beihilfe an. Diese bannten – der Sage nach – das Gespenst nicht ohne Mühe in den tiefen Keller eines verödeten Hauses an der Bäckenspreng, wo man es noch lange Jahre nachher in der Zeit zwischen Gebetläuten und Hahnenschrei wimmern und ächzen hörte zum Schrecken aller Vorübergehenden.

 


 


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