Alexander Schöppner
Bayrische Sagen
Alexander Schöppner

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Ein Wanderer in den Untersberg

In der Salzburger und der Berchtesgadener Gegend geht ein altes, seltenes Büchlein von Hand zu Hand, das beschreibt eine gar wundersame Mär, die sich mit einem Mann namens Lazarus Aigner (nach anderen Gitschner) zugetragen und in dem Büchlein von ihm selbst für wahrhaftig beschrieben wird.

Es war im Jahre 1529, als dieser Mann, ein Diener des Stadtschreibers zu Reichenhall, mit seinem Herrn, dem Pfarrer Martin Elberger, und noch zwei anderen Männern aus Reichenhall auf den Untersberg ging. Da kamen sie zu einer Felsenschlucht, der Hohe Thron genannt, wo ein Loch in den Berg ging. Unter dem Felsen stand eine Kapelle, die trug eine Schrift von silbernen Buchstaben, die die Wanderer ansahen und lasen. Nachher sind sie wieder nach Hause gegangen.

Später kam unter ihnen das Gespräch auf die Schrift, deren Buchstaben ihnen entfallen waren, und der Pfarrer sprach zu Aigner, er möge doch nochmals hinaufgehen und die Schrift abschreiben. Dieser ging an einem schönen Septembertag, einem Mittwoch, allein auf den Berg, fand die Schrift mit uralten Buchstaben in die Wand gehauen und schrieb sie ab: S. O. R. C. E. J. S. A. T. O. M.

Über dem Aufschauen und Abschreiben dieser alten Inschrift wurde es Abend und zu spät, den Rückweg anzutreten. Daher bettete sich Lazarus nahe der Höhle auf weiches Moos und schlief ein. Am anderen Morgen machte er sich auf und wollte wieder hinab nach Reichenhall, sah sich jedoch zuvor im Gehen ein wenig in die Weite um – und siehe, plötzlich steht vor ihm ein barfüßiger Mönch, der betet aus einem Buch und trägt eine große Bürde Schlüssel auf der Achsel. Jetzt redet der Mönch ihn an: »Wo bist du gewesen? Wo gehst du hin? Hast du gegessen, oder bist du noch hungrig?«

Lazarus antwortete schlecht und recht, und der Mönch hieß ihn mit sich gehen. Sie gingen aufwärts gegen den Hohen Thron, kamen wieder an eine Felskluft, die war mit einer eisernen Tür versperrt, die der Mönch mit einem seiner Schlüssel aufschloß, und dann traten sie in den Berg ein. Der Mönch sprach zu Lazarus Aigner: »Lege deinen Hut da nieder, so kannst du wieder heraus; innen aber sprich zu niemand ein Wort, es sage einer zu dir, was er wolle. Mit mir darfst du reden und mich fragen, was du willst. Merke auch wohl, was du siehst und hörst.« Innen zeigte sich ein großer Turm mit einer goldgezierten Uhr. Da sprach der Mönch: »Schau auf die Uhr, auf welcher Stunde der Zeiger steht und um welche Stunde es ist.«

Es war sieben Uhr. Als Lazarus Aigner aufschaute, sah er ein herrliches Gebäude mit einem doppelten Glockenturm wie ein ansehnliches Kloster, das auf einer schönen, weiten Wiese lag. Ein Brunnen war daneben mit schneekaltem Wasser, rundum war schöner grüner Wald. Der Wanderer kam mit dem Mönch in eine Kirche, die so weit war, daß er von der hinteren Kirchentür kaum auf den Chor hinaufsehen konnte. Dort beteten beide, und der Mönch hieß den Mann in einem Stuhl bleiben und sagte ihm, daß die Kirche zweihundert Altäre habe und über dreißig Orgeln.

Als Lazarus in dem Stuhl saß, kamen eine Treppe herunter mehr als dreihundert Mönche, alte und junge, blickten ihn scharf an, gingen auf den Chor und sangen die Horen andächtig. Nun erklangen alle Glocken, und unzählbare Scharen Andächtiger, angetan mit herrlichen Kleidern, erfüllten das unterirdische Gotteshaus. An allen Altären wurde Messe gelesen und das Hochamt gesungen, und alle Orgeln erdröhnten, und zahllose Instrumente wurden laut mit himmlischer Musik. Dann verlor sich das Volk, und die Mönche wandelten wieder an dem Erstaunten vorüber.

Hernach führte der Mönch Lazarus eine Treppe von achtzig Staffeln hinauf in einen Speisesaal voll hoher, doch unverglaster Kirchenfenster zu beiden Seiten, daraus sah man hinab auf die Wiese. Daran stieß der Konvent, oben gewölbt und mit schönen Fenstern wohl versehen. Darinnen standen lange Tische, und an einem davon speiste der Mönch Lazarus Aigner mit üblicher Klosterkost und einem Becher Wein. Zur Nonezeit (3 Uhr nachmittags) gingen beide wieder in die Kirche, die wieder voll Volk war.

Nach der None gingen sie in die Bibliothek, da sah Aigner viele Leute auf dem Anger hin und her gehen, und auf Befragen, wer diese seien, antwortete der Mönch: »Es sind alte Kaiser, Könige, Fürsten, Bischöfe und andere Ritter, Herren und Knechte, Edle und Unedle, auch Frauen, christliche Leute, die den christlichen Glauben zur letzten Zeit vor dem Untergang der Welt erretten und verteidigen helfen.«

Die Bücher in der Bibliothek waren uralt, aus Baumrinden und Häuten und mit alten unbekannten Buchstaben beschrieben. Vieles las und erklärte der Mönch. Zur Vesperzeit gingen beide abermals in die Kirche, dann in den Konvent zum Speisen, dann in die Komplet. Darauf ordnete sich ein langer Zug der Mönche mit Büchern und Laternen, und je zwei und zwei gingen nach dem hohen Turm, durch den Lazarus eingegangen war in den Untersberg. Da sah man auf zwei Seiten sechs Türen, und der Mönch nannte zwölf verschiedene Kirchen in der Umgegend, in die man durch diese Türen gelange: nach Salzburg, Reichenhall und andere. Er sprach: »Jetzt gehen wir nach St. Bartholomä bei Berchtesgaden«, und so tat sich die eine Tür auf, und sie gingen in einem breiten und schönen Gang fort und fort. Einmal sagte der Mönch: »Schau, Lazarus, jetzt gehen wir tief unter dem See«; damit meinte er den Königssee, an dem St. Bartholomä gelegen ist. In der Kirche sangen sie die Metten und gingen dann zurück.

Der folgende Tag wurde vollbracht wie der erste, nur daß sie zur Nacht in den Dom zu Salzburg gingen und dort ihr Gebet verrichteten. Hernach lasen sie in der Bibliothek die großen Bücher voll alter Geschichten und zukünftiger Ereignisse, und der Mönch sprach viele Weissagungen, wie es sich dermaleinst in der Welt zutragen werde. Als sie so lasen und miteinander sprachen, sahen sie einen Kaiser unter dem Volk, mit Krone und Zepter, der hatte einen grauen Bart vom Haupt bis zum Gürtel, und der Mönch sagte: »Das ist Kaiser Friedrich, der einst auf dem Walserfeld verzückt worden ist. Schau ihn wohl an, er ist in solcher Gestalt, wie er ist, verlorengegangen.«

Auch andere verstorbene Fürsten und edle Herren mehr erblickte Lazarus, auch etliche seiner noch lebenden Bekannten, und er fragte den Mönch, was diese in dem Berg machten und was ihr Tun und Lassen sei. Da gab ihm der Mönch eine solch derbe Maulschelle, daß er sie sein Leben lang empfand, und sprach zornig: »Was bedarfst du Wissens und Forschens nach den Geheimnissen Gottes?« –

So waren nun bereits sieben Tage vergangen, als der Mönch sprach: »Lazarus, nun ist es Zeit, daß du wiederum hingehst; oder willst du herinnen bleiben, so magst du es auch tun.«

Aigner antwortete: »Ich will hinausgehen.«

So geleitete ihn der Mönch zu dem Turm, versah ihn mit Zehrung und guter Ermahnung, hinfort demütig zu leben, hieß ihn auch wieder auf die Uhr schauen, deren Zeiger eben wieder auf sieben stand, und den Hut aufsetzen, der noch dort lag. Dann redete er noch manches von künftigen jämmerlichen und kümmerlichen Zeiten, die noch kommen würden, und schließlich befahl er ihm, er solle alles, was er gehört und gesehen habe in dem wunderbaren Berg, fleißig merken und beschreiben, doch nicht eher als nach fünfunddreißig Jahren. Zuletzt segnete er ihn und sprach: »Nun gehe hin im Namen des Friedens, du wirst schon dermaleinst wieder zu mir kommen! Schau dich auch nicht um!«

Und so kam Lazarus Aigner mit Zittern wieder hervor aus dem Schoß des Untersberges und herab nach der Stadt Reichenhall, und er war ganz still.

 


 


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