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Ein Stündlein von Augsburg entfernt liegt auf einer Anhöhe das alte Schloß Wellenburg, vormals dem edlen Geschlecht der Portner gehörig. Dort lebte um das Jahr 1290 eine fromme Magd, Radiana oder Radegundis mit Namen. Nicht weit vom Schloß, an der Stelle, wo später die St.-Radegundis-Kapelle stand, war ein Siechenkobel (Spital). Dahin richtete die fromme Jungfrau alltäglich ihre Schritte, sobald sie die Geschäfte ihres Dienstes getan hatte. Alles, was sie selbst vom Mund ersparen konnte – Milch und Butter, Brot und Fleisch –, trug sie den armen Kranken unbemerkt in ihrem Körblein zu. Dennoch wurde sie von arglistigen Augen beobachtet und bei ihrem Herrn des Diebstahls bezichtigt.
Also stellte sich dieser eines Tages auf die Lauer, die untreue Dienerin bei der Tat zu erwischen. Nichts Böses ahnend kam sie daher, ein Körblein am Arm, in dem sie abermals das von ihrem Mund Erparte den Kranken zutrug. »Wohin mit deinem Korb? Wohin, du Treulose, mit gestohlenem Gut?« So donnerte ihr das Wort des Gebieters entgegen.
Betroffen erwiderte Radiana, sie trage nur Kamm und Bürste zur Reinigung der Kranken in ihrem Korb. Zornerfüllt befiehlt ihr jener den Korb zu öffnen; mit Widerstreben und Zittern gehorcht Radiana. Doch siehe – was Lüge ersonnen, hat sich im Korb wunderbar zugetragen. Anstatt des Brotes und der Butter sind nur Kamm und Bürste zu sehen. Zufrieden läßt der Herr die Geprüfte des Weges ziehen; allein diese sollte die Strafe der Lüge hart erstehen. Denn als sie des Abends wieder nach Hause wandelte, wurde sie plötzlich von gierigen Wölfen angefallen und so jämmerlich zugerichtet, daß man sie für tot in die Wellenburg brachte. Dort ist sie nach drei Tagen eines seligen Todes entschlafen.
Die Portner, damals Besitzer der Wellenburg, wollten den Leichnam der frommen Magd in ihr Familiengrab nach Augsburg bringen, allein das vorgespannte Zugvieh blieb bei dem Siechenkobel stehen und konnte nicht weitergebracht werden, worauf Radiana dort begraben wurde.