Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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8

An einem Augusttag des Jahres 1909 feierten Daniels Schüler den fünfzigsten Geburtstag ihres Meisters. Sie brachten ihm allerlei Geschenke und veranstalteten ein Essen im Gasthaus zum Ochsen.

Einer der Schüler, ein bildhübscher Jüngling, dessen Zukunft Daniel besonders am Herzen lag, überreichte ihm einen großen Strauß Feuerlilien, wie sie dort in den Wäldern wachsen. Er hatte sie selbst gepflückt und in eine kostbare Vase getan.

Es gab frugale Speisen, und dazu wurde fränkischer Landwein getrunken. Während des Mahles stand Daniel auf, ergriff sein Glas, und mit fernsehendem Blick sagte er: »Ich trinke auf ein Wesen, das keiner von euch kennt, das hier in Eschenbach aufgewachsen und mir seit vielen Jahren geheimnisvoll entschwunden ist. Aber ich weiß, in dieser Stunde ist sie glücklich und geliebt.«

Alle erhoben die Gläser. Sie sahen ihn an und waren von der Kraft und Klarheit seiner Züge bewegt.

Danach begab er sich mit den Schülern in die Kirche. Er ließ beide Torflügel öffnen, so daß das Tageslicht hereinströmte und in der dunkel gewesenen Höhe eine milchige Helligkeit verbreitete.

Er stieg zur Orgel hinauf und fing an zu spielen. Ein paar Männer und Frauen, die über den Platz hatten gehen wollen, traten in die Kirche und setzten sich still neben den Schülern auf die Bänke. Dann kamen Kinder; schüchtern trippelten sie durch das Tor, blieben stehen und machten große Augen. Und immer mehr Leute kamen, denn die mächtigen Klänge fluteten bis in die Wohnungen. Alle schauten schweigend und ernst zur Orgel empor, deren erhabene Harmonien sie dem Alltag und seiner Niedrigkeit unerwartet entrückten.

Die Töne schwollen an wie ein Gebet aus übervollem Herzen. Als der rauschende Hymnus zum Schluß gediehen war, drang aus den Reihen der Zuhörer ein leises Mädchenweinen.

Es war Agnes, die weinte. Wurde das Leben in ihr völlig aufgeweckt? Rief Liebe sie hinaus ins Unbekannte? Wiederholte sich in ihr, was ihrer Mutter geschehen war?

Kinder wachsen auf und werden von ihrem Schicksal ergriffen.

Gegen Abend machte Daniel mit seinen neun Schülern einen Spaziergang über die Wiesen. Sie gingen weit; letzte Vogelstimmen erschallten, das Rot des Himmels verblaßte.

Da fragte der schöne Jüngling, der an Daniels Seite schritt: »Und das Werk, Meister?«

Daniel lächelte bloß; sein Blick schweifte über die Landschaft.

Die Landschaft hat vielfaches Grün; an den Weihern steht das Gras höher, so hoch oft, daß man von den Gänseherden nur die Schnäbel gewahrt, und wäre das Geschnatter nicht, man könnte die Schnäbel für wunderlich bewegte Blumen halten.

 
Ende


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