Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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Prometheische Symphonie

1

Herbst und Winter hindurch führte Daniel ein schweigsames, einsames Leben. Im Frühjahr schrieb ihm Sylvia von Auffenberg, er möge zu ihr und Eberhard nach Siegmundshof kommen und einige Wochen bei ihnen zubringen. Er schlug es ab, versprach später zu kommen.

Bisweilen besuchte ihn der alte Herold. Er erzählte von den Mißständen, die unter Döderleins Regiment an der Schule eingerissen waren und sagte, die Welt sei drauf und dran, ein Saustall zu werden.

Auch der Provisor Seelenfromm stellte sich ein, ferner der Architekt mit dem Zungenfehler, und Martha Rübsam kam hie und da. Gegen Ende des Winters erschien auch Herr Carovius. Er hatte ein umgänglicheres Wesen denn ehedem und gab originelle Ansichten über Musik zum besten.

Alles Reden klang an Daniels Ohr vorüber. Oft waren mehrere Menschen um ihn, er schien ihnen zuzuhören, und doch war in seinem Gesicht eine vollständige Geistesabwesenheit. Wandte sich jemand mit einer Frage an ihn, so geschah es nicht selten, daß ein kindliches Lächeln auf seine Lippen trat. Keiner hatte dieses Lächeln früher an ihm bemerkt.

Er gab Philippine das Geld zurück, das sie ihm damals geliehen, als das Klavier gepfändet worden war. Philippine sagte: »Ioi, mir scheint, Daniel, du schwimmst in Geld.« Sie brachte ihm den Schuldschein, trug das Geld in ihre Kammer und rechnete lang auf einem Stück Papier, ob die Zinsen stimmten.

Das Agneslein saß am Boden und schnullte an einem Süßholz. Es freute sich, wenn Philippine da war. Vor seinem Vater hatte es Angst.

Die Freunde hatten gemeint, die Wohnung sei jetzt zu geräumig, Daniel möge sie aufgeben und eine kleinere und billigere nehmen. Da war er aufgebraust und hatte erklärt, freiwillig werde er sich hierzu nie verstehen, das Haus bedeute ihm noch was anderes als ein gemietetes Quartier, und es müsse alles so bleiben, wie es bisher gewesen.

Eines Tages im Frühjahr sagte er zu Philippine: »Ich geh jetzt fort für lange Zeit. Gib acht auf das Kind, und daß es dem alten Mann droben an nichts fehlt. An jedem Ersten schick ich dir das Geld für die Wirtschaft, und du bist mir verantwortlich für alles, was geschieht. Und noch was; ich will dir Lohn zahlen. Du sollst mir nicht umsonst dienen. Ich will dir fünf Taler im Monat geben.«

Das Schüttern, das Daniel schon öfter beobachtet hatte, lief über Philippines Züge. Sie ruckte mit den Schultern, machte ihr hämischestes Gesicht und antwortete: »Spar deine Batzen, wirst sie schon brauchen, mußt nit gleich 'n großen Herrn spielen; kauf lieber dem Agneslein orndliche Schuh und orndliche Kleider, is g'scheiter.« Daniel ließ sie stehen.

Schwerlich war ihre Geldgier geringer geworden, seit sie bei ihren Eltern gestohlen hatte; sie liebte das Metall; sie liebte, es zu sehen und zu betasten; sie liebte die Scheine, liebte es, sie glatt zu streichen; sie liebte die Vorstellung, daß die Menschen sie für arm hielten und daß sie, ihnen zum Possen gleichsam, in einem alten Strumpf zwischen ihren Brüsten mehr als tausend Mark herumtrug. Sie liebte es, wenn andre über die schlechten Zeiten jammerten, wenn Bettler auf der Straße ihr die Hand entgegenstreckten. Dann dachte sie an ihren Schatz, blähte ein wenig den Leib auf, um den alten Strumpf besser zu spüren und freute sich der Sicherheit, die sie sich bei so jungen Jahren bereits verschafft hatte.

Trotzdem war ihr zumut, wie wenn sie Daniel mit den Fingernägeln die Augen auskratzen müßte, als er von Lohn für ihre Dienste sprach. Sie empfand es als schwärzesten Undank; wenn in ihrer dunklen, neidischen und boshaften Seele ein Kummer überhaupt Wurzel schlagen konnte, so war es jetzt und aus diesem Grund.

Sie lief in die Küche und schmiß Messer und Gabeln voll Wut in den Spülbottich. Nach einer Weile begab sie sich zum alten Jordan, klopfte an seine verschlossene Kammer, und nachdem er ihr geöffnet hatte, teilte sie ihm erbittert mit, daß Daniel verreisen wolle. »Kaum is ein übriger Groschen im Haus, so treibt's ihn schon auf die Juchhee,« räsonierte sie. »Da steckt doch ganz gewiß wieder so ein Deifelsfrauenzimmer dahinter. Sagen Sie's ihm nur, Herr Inspektor, sagen Sie's ihm nur, was das für eine Gemeinheit ist, sein Kind und den alten Vater im Stich lassen. Sagen Sie's ihm, dann kriegen S' zum Sonntag Kartoffelklöß' mit Lebkuchensaft.«

Jordan schaute Philippine scheu ins Gesicht. In seinem Auge war etwas wie Hunger nach der versprochenen Speise, denn Philippine hielt ihn bei schmaler Kost, und manchmal ging er heimlich, nur um sich zu sättigen, in einen Wurstladen und kaufte sich für zehn Pfennige Preßsack.

»Ich will mich nach dem Zweck seiner Reise erkundigen,« murmelte er; »aber ich glaube nicht, daß ich da etwas über ihn vermag.«

»Jetzt gehn S' 'naus, gehn S' a bisla spazier'n,« befahl Philippine, »die Fenster müssen geputzt wer'n, die starren ja vor Dreck.«

Am späten Abend noch kam Daniel zu Jordan, um sich von ihm zu verabschieden.

»Wohin geht denn die Fahrt?« fragte der alte Mann.

»Will mir ein wenig das deutsche Reich ansehn,« erwiderte Daniel. »Hab im Norden droben zu tun, in Städten und auf dem Land.«

»Glück zu,« sagte Jordan bedrückt, »Glück zu, lieber Sohn. Wie lang bleibst du denn fort?«

»Weiß noch nicht. Kann sein, Jahre.«

»Kann sein, Jahre,« sprach Jordan, und seine Blicke suchten auf dem Boden Halt; »da werden wir uns auf ewig Lebewohl sagen müssen, scheint mir.«

Daniel schüttelte den Kopf. »Wann immer ich auch zurückkomme, ich treff dich noch hier,« sagte er mit seltsamer Bestimmtheit. »Hat's das Schicksal zu arg mit einem Menschen getrieben, dann geht es ihm aus dem Weg. Es kommt mir vor, als wärst du jetzt ganz schicksalslos.«

Jordan antwortete nicht. Seine Augen weiteten sich wie vor Furcht, und er seufzte.

Am andern Morgen verließ Daniel sein Heim. Er hatte eine braune Joppe an, die bis zum Hals mit Hirschhornknöpfen geschlossen war. Darüber hing ein Mantel mit einer Pelerine. Der breitkrempige Hut überschattete das Gesicht, welches jung aussah, obgleich so ernst, so abgekehrt, daß Stimmen, Blicke und Geräusche von ihm abzuprallen schienen wie bewegtes Wasser von einer steinernen Mauer.

Philippine trug ihm den Koffer zum Bahnhof. Ihr Kleid war mit grellfarbigen Bändern geradezu übersät. Die Weiber auf dem Markt bekamen den Hetscher vor Lachen.

Als Daniel ihr adieu sagte und ins Kupee stieg, tat sie den Mund nicht auf. Mit gerunzelter Stirn, die Fingerspitzen aneinander reibend, stand sie da und schaute beharrlich zur Erde. Nachdem der Zug längst aus der Halle gefahren war, stand sie immer noch da, bis ein Beamter sich ihr näherte und sie, mit schlecht verhehltem Spott über die rare Erscheinung, befragte, worauf sie warte.

Sie kehrte ihm den Rücken und ging. Sie machte einen Umweg über den Jakobsplatz und sprach für ein Viertelstündchen bei ihrer Freundin, der Frau Hadebusch, vor. Es war ein Sonntag. Benjamin Dorn kam eben von der Kirche und machte Philippine eine tiefe Verbeugung.

Frau Hadebusch klopfte Philippine auf den Schenkel und zwinkerte bedeutungsvoll.

Herr Francke wohnte nicht mehr bei Frau Hadebusch. Herr Francke wohnte im Gefängnis. Er hatte einer herrschaftlichen Köchin die Ehe versprochen, hatte sich aber nicht damit beeilt, sondern einstweilen nur die Ersparnisse seiner Braut im Billardspiel vertan.


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