Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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15

Als der Herbst anfing, kalt zu werden, kam Daniel wieder häufig zu Jordans hinauf. Obwohl er nun zu Hause selbst einen warmen Ofen hatte, erinnerte er sich gern des gemütlichen Winkels vom vorigen Jahr. Er besaß eine Anhänglichkeit für Dinge und Räume, die größer war als die für Menschen.

Den Inspektor traf er nur selten, der war jetzt immer unterwegs, da er ohne feste Stellung für verschiedene Gesellschaften tätig war; Benno kam nach den Bureaustunden bloß heim, um sich in seinem Zimmer zu rasieren und für den Abend so elegant wie möglich zu machen. Mit Gertrud wollte er nicht allein sein, deshalb stellte er sich gewöhnlich erst nach sechs Uhr ein, wenn Lenore schon zu Hause war. Da er wußte, daß Lenore seit einiger Zeit eifrig Französisch und Englisch lernte und diese Abendstunden ihr unentbehrlich waren, bat er sie, sich nicht stören zu lassen. Er behauptete, er finde es am angenehmsten, ruhig sitzen zu können und nicht sprechen zu müssen. Nach einer Stunde oder nach zweien ging er mit einem undeutlich gemurmelten Gruß wieder fort.

Bisweilen hatte er ein Buch mit und las. Erhob er den Blick, so sah er die über das Schreibheft gebeugte Gestalt Lenores, ihre vom Lampenlicht goldig durchleuchteten Haare, die über dem Scheitel und an den Schläfen noch in seinen Fäden blitzten, und den entschlossen verpreßten Mund mit den lieblich hinabgebogenen Ecken. Dann sah er Gertrud, die jetzt die Haare nicht mehr lose trug, sondern in einem dichten Knoten über dem Nacken, auch kein grünes Kleid mehr, sondern ein braunes, welches vorne eine Reihe großer, glänzend schwarzer Knöpfe hatte.

Manchmal flog ein Wort von Lenore zu ihm, und er erwiderte es; manchmal spann sich das eine Wort zu einem Geplänkel aus. Lenore hänselte, und er war grob; oder er spottete, und Lenore hielt eine kleine Strafpredigt. Da hatte Gertrud einen ratlos staunenden Blick, und sie kehrte das Gesicht gegen die Fensterscheibe. Mit Absicht blieb sie unbeschäftigt, mit Absicht verschob sie ihre häuslichen Obliegenheiten; der Gedanke, daß die beiden allein im Zimmer weilten, war ihr unerträglich.

Was Daniel tat und sagte, ja sogar, wie er ging und saß und stand, wie er die Hände in die Hosentaschen steckte und die Lippen fletschte, alles das erregte Furcht und Scham in ihr. Sie fühlte sich beleidigt durch jede seiner Gebärden. Seine Freimütigkeit erschien ihr als freche Anmaßung, seine Launenhaftigkeit als böswillige Unvernunft, seine nachlässigen Manieren und seine Schmähsucht wie der Hohn eines Teufels.

Da geschah es, daß er einmal eine gallige Bemerkung über die Mucker fallen ließ, die den lieben Gott für einen Sittenwächter und jeden angefressenen Pfarrherrn für einen Erzengel nehmen. Mit einem Ruck erhob sich Gertrud und starrte ihn an. Er hielt dem Blick stand und zuckte die Achseln. »Menschen ohne Glauben sind schlimmer als ansteckende Krankheiten,« flüsterte sie.

Daniel lachte. Dann verfinsterte sich sein Gesicht, und er fragte, was sie denn Glauben nenne? Ob sie der Meinung sei, daß der Glaube im Lippendienst bestehe? Sie antwortete mit geducktem Kopf, sie könne über das, was ihr heilig sei, nicht mit jemand reden, der sich von aller Religion losgesagt habe. Da flammte Daniel auf und nannte ihre Reden lästerlich; ob sie sich wohl schon irgendwelche Mühe mit ihm gegeben habe, daß sie mit ihrem Urteil so rasch fertig geworden sei? Und ob sie denn so genau wisse, ob ihr sogenannter Glaube etwas Besseres sei als sein sogenannter Unglaube? Woher sie denn das Maß nehme und den Mut und die Sicherheit? Und ob sie sein Inneres kenne, und ob sie beim lieben Gott Audienz gehabt habe?

Er lachte wieder, pfiff dann und ging fort.

Gertrud blieb eine Weile stehen und schaute zu Boden. Lenore hatte das Kinn auf die Hand gestützt und sah sie mitleidig an. Plötzlich begann Gertrud am ganzen Leib zu zittern und streckte, ohne den Blick zu heben, ihren Arm gegen Lenore aus. Lenore erschrak, aber sie wußte nicht, was diese anschuldigende Bewegung zu bedeuten hatte.

Und das nächstemal, als Daniel auf seinem Ofenplatz saß, fing er, aus tiefem Schweigen heraus, auf einmal an, über Religion zu sprechen. In vorgesetztem Trotz; wie aus einem Hinterhalt, aus dem man Pfeile sendet; mit berechneter Bosheit und kalter Auflehnung; als ein Geschlagener und Gejagter, einer, der der himmlischen Regierung noch weniger vorgibt als der irdischen. So saß er da, eine leibhaftige Blasphemie, und hatte wieder sein Affengesicht.

Doch Lenore fühlte, daß er sich und seinen Gott verleugnete, und zwar mit viel Gewalt. Sie trat zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter; derweil schritt Gertrud mit leichenblasser Miene an ihr und Daniel vorüber und zeigte sich an diesem Abend nicht mehr. An diesem nicht und an den folgenden nicht. Sie mied jetzt seine Gegenwart.

In einer höchst wunderlichen Sekunde, nicht länger hatte es gedauert, war Daniels Blick, indes sich das Mädchen erhob, auf dem Umriß ihrer Beine heften geblieben. In dieser Sekunde wurde ihm bewußt, daß sie ein Weib war, und er ein Mann. In dieser Sekunde nahm er das Äußere ihres Körpers wahr, aber ohne die verkleidende Hülle. Ja, er dachte sie nackt; eine einzige Sekunde lang, aber er dachte sie nackt; und alles, was sie gesprochen hatte, wie auch alles, was sie tat und sagte, fiel als Kleiderhülle von ihr ab.

Da war es ihm, als könne er zum ersten Male sehen, und als sehe er den Körper der Welt.

Ihr Bild folgte ihm nach; er sträubte sich gegen die Beunruhigung. Es war ihm dergleichen noch nie passiert; er rief das Bild auf, um es mit kühlem Sinn zu zerstören, es wich nicht, und als er Gertrud eines Tages beim schönen Brunnen begegnete, blieb er wie versteinert stehen und vergaß zu grüßen.


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