Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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18

Daniel brachte Dorothea zu Sylvia von Erfft nach Siegmundshof. Er hatte ihr geschrieben, ihr die Verhältnisse geschildert und sie gebeten, sie möge Dorothea bis zum Tag der Hochzeit bei sich aufnehmen. Sylvia hatte sich herzlich bereit gezeigt, seine Bitte zu erfüllen.

Zwei Nächte hatte Dorothea noch zu Hause verbracht, und es war ihr gelungen, allen Auseinandersetzungen mit ihrem Vater aus dem Weg zu gehen, indem sie sich drei Tage Bedenkfrist erbeten hatte. Am Morgen des dritten Tages, als der Vater zur Musikschule gegangen war, hatte sie ihre Habseligkeiten gepackt und das Haus verlassen.

Andreas Döderlein fand folgenden Brief von ihrer Hand vor: »Lieber Vater, mach dir keine Hoffnungen mehr bezüglich des Herrn Weißkopf. Ich bin großjährig und kann heiraten, wen ich will. Meine Wahl ist bereits getroffen, der Mann, mit dem ich vor den Altar trete, heißt Daniel Nothafft. Er liebt mich mehr als ich's vielleicht verdiene, und ich will ihm eine gute Frau sein. Daran ist nichts mehr zu ändern, und sicherlich kommst du auch zur Einsicht, daß es edler ist, dem Zug des Herzens zu folgen, als sich von materiellen Vorteilen locken und blenden zu lassen. Deine dich liebende Tochter Dorothea.«

Es schwindelte Andreas Döderlein. Das Briefblatt glitt ihm aus den Fingern und zu Boden. Am ganzen Körper zitternd, schritt er zum gedeckten Tisch, ergriff ein Wasserglas und schleuderte es gegen die Wand, daß es in zahllose Scherben zersplitterte. »Ich werde dich erdrosseln, Kröte!« keuchte er, streckte die geballte Faust empor, ging in Dorotheas Zimmer und warf in seiner unmäßigen Wut die Stühle und den kleinen Toilettetisch um.

Die Magd war erschrocken in die Wohnstube geeilt. Sie sah Dorotheas Brief auf dem Boden liegen, hob ihn auf und las ihn. Als sie ihren wütenden Herrn zurückkommen hörte, flüchtete sie, lief ins Erdgeschoß, läutete an Herrn Carovius' Tür und zeigte ihm den Brief. Sein Gesicht wurde gelb, während er die Zeilen überflog. Da stieß die Magd einen leisen Schrei aus, riß Herrn Carovius den Brief aus der Hand und rannte in den Hof, denn von oben kam Andreas Döderlein herunter. Er wollte auf die Polizei und dort fordern, daß man den Entführer seiner Tochter verhafte. Als er Herrn Carovius im Flur gewahrte, blieb er stehen und fixierte ihn mit einem haßerfüllten Blick, in welchem gleichwohl etwas wie eine scheue Frage enthalten war. Ja, es hatte fast den Anschein, als ob ein einziges versöhnendes Wort, eine Gebärde nur des Langgemiedenen alles Vergangene hätte auslöschen und jenen zum Bundesgenossen beim Werk der Strafe und Rache hätte machen können.

Aber Herr Carovius war fertig mit der Welt. Seine Züge verzerrten sich zu einer Grimasse der Bosheit und der Verachtung, dann kehrte er sich um und schlug die Türe seiner Behausung krachend hinter sich zu.

Andreas Döderlein ging nur bis zum Portal des Rathauses. Dort überfielen ihn plötzlich allerlei Bedenklichkeiten, er starrte eine Weile düster auf das Pflaster und begab sich dann wieder auf den Heimweg, mit Schritten, die nur halb so ungestüm waren wie vorher und auf eine gebrochene Tatkraft deuteten.

Kaum war er zu Hause angelangt, so wurde ihm Daniel gemeldet. »Sie erkühnen sich, Herr?« schrie er dem Eintretenden entgegen, »Sie erkühnen sich, vor meinem Angesicht zu erscheinen? Beim Himmel, das ist viel.«

»Ich nehme jeden Kampf auf,« sagte Daniel mit der kalten Würde, die ihm bei solchen Gelegenheiten eigen war und die einschüchternd wirkte. »Ich habe nichts zu fürchten. Mit dem Vater meines Weibes möcht' ich gern in Frieden leben, deshalb bin ich da.«

»Wissen Sie denn auch, was Sie mir tun? Sie haben mir die Tochter gestohlen, Mann!« rief Döderlein mit Pathos. »Aber ich werde Ihre Absichten durchkreuzen, verlassen Sie sich darauf, ich werde Ihnen meine Macht zu spüren geben.«

Daniel lächelte verächtlich. »Dessen bin ich sicher,« antwortete er. »Ich kenne diese Macht, so lang ich lebe. Nur hab ich mich ihr nie unterworfen, und bisweilen ist es mir gelungen, sie zu brechen. Denken Sie ein wenig über mich nach, und über Ihr Kind, und über sich selbst. Adieu.« Damit ging er.

Andreas Döderlein war beunruhigt. Das Lächeln des Menschen verfolgte ihn. Was mochte der Desperado wieder einmal im Schilde führen? Böses Gewissen lähmt böse Entschlüsse. Länger als eine Woche rang Döderlein mit seinem Stolz, und als Daniel nichts mehr von sich hören ließ, auch von Dorothea keine Nachricht kam und zu allem Unheil der Mühlenbesitzer das Darlehen zurückforderte, sagte er sich, daß an dem Geschehenen nichts mehr zu ändern sei, und eines Tages stieg er die drei Treppen des Hauses am Egydienplatz empor.

»Das freut mich,« sagte Daniel und streckte dem Besucher die Hand hin.

Andreas Döderlein sprach von einem blutenden Vaterherzen, von der Vernichtung großer Hoffnungen, von der Pietätlosigkeit der Jugend und der Einsamkeit des Alters, dann, ziemlich unvermittelt, mit den Fingern seiner gewaltigen Hand auf die Tischplatte trommelnd, von der Zwangslage, in die er gegenüber dem Mühlenbesitzer geraten sei. Er habe für einen Freund Bürgschaft geleistet, sei zur Zahlung genötigt worden und habe sich nur helfen können, indem er bei dem reichen Bewerber um Dorotheas Hand eine Anleihe aufgenommen habe.

Daniel mußte zugeben, daß die Sorge demütigend sei und die Schuld beglichen werden müsse. Es seien fünfzehnhundert Mark, sagte Döderlein; er war selbst überrascht, als er diese Summe nannte, die ihm fünfzig Prozent Gewinn sicherte; es war ein kluger Einfall gewesen, der zugleich dazu diente, die Generosität des künftigen Schwiegersohnes auf die Probe zu stellen. Im Grunde fand er seine Handlungsweise nicht honett und war daher gerührt, als Daniel, der die Schmälerung seiner Ersparnisse nur kurz bedachte, ihm das Geld am andern Tag zu bringen versprach.

»Sie beschämen mich, Daniel,« sagte er, »wahrlich, Sie beschämen mich. Lassen Sie uns die Streitaxt begraben und gute Freunde werden. Sind wir doch ohnehin Kollegen in Apoll. Oder nicht? Nennen Sie mich Vater, ich will Sie Sohn heißen, sagen Sie du, ich will ein gleiches tun.«

Daniel reichte ihm schweigend die Hand.

Döderlein fragte nach Dorothea, und als ihm Daniel mitgeteilt, wo sie sich aufhielt, zeigte er sich sehr zufrieden darüber. »Mein Haus und meine Arme sind ihr geöffnet, unterrichte sie davon, melde ihr die veränderte Konstellation,« sagte er weich; »wir haben unrecht aneinander gehandelt, beide; wir haben es beide gebüßt.«

Daniel erwiderte trocken, er halte es für besser, wenn Dorothea bei Sylvia von Auffenberg bleibe.

»Wie du willst, mein Sohn,« sagte Andreas Döderlein, »ich füge mich den Forderungen eures jungen Glückes. Nun aber sollten wir eine Flasche Malvasier oder Mosel haben und auf die Zukunft meines lieben Wildfangs trinken. Oder widerstrebt es dir?«

Daniel ging hinaus, um Philippine ins goldene Posthorn zu schicken. Philippine war aber mit Agnes fortgegangen; er gewahrte eine der Mägde des Hauses auf der Stiege und bat sie um die Besorgung. Es dauerte lange, bis sie mit der Flasche kam, und als der Wein eingeschenkt war, erwies es sich, daß Döderlein keine Zeit mehr hatte, weil er um sieben Uhr eine Unterrichtsstunde erteilen mußte. Er leerte sein Glas nur halb und verabschiedete sich mit einem kräftigen Händeschütteln von Daniel.

Eine Weile war Daniel sinnend gesessen, da pochte es an der Tür, und der alte Jordan trat ein. »Ist's erlaubt?« fragte er.

Daniel nickte, und er nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem Andreas Döderlein gesessen. Forschend schaute er Daniel ins Gesicht; plötzlich sagte er: »Ist's denn wahr, Daniel, daß du wieder heiraten willst? Daß du die Döderleinsche heiraten willst?«

»Ja, Vater, es ist wahr,« antwortete Daniel. Er holte ein frisches Glas, goß Wein hinein und schob es dem alten Mann hin. »Trink, Vater!« sagte er.

Der Alte nippte andächtig. »Es dürften wohl, meiner Schätzung nach, neun bis zehn Jahre vergangen sein, daß ich keinen Wein getrunken habe,« redete er vor sich hin.

»Dein Leben ist nicht gut gewesen,« erwiderte Daniel.

»Ich beklage mich nicht, Daniel. Ich trag's, weil ich's tragen muß. Und wer weiß, vielleicht ist mir noch ein kleines Glück beschert. Vielleicht; wer weiß.«

Dann saßen sie schweigend und tranken hie und da. Es war so still, daß sie die Flamme der Lampe rauschen hörten.

»Wo bleibt denn die Philippine?« fragte Daniel endlich.

»Ja, die Philippine, das hatt' ich ganz vergessen,« begann der alte Jordan sorgenvoll. »Am Nachmittag ist sie zu mir hinaufgekommen und hat mir mitgeteilt, sie gehe zur Frau Hadebuschin und werde mit der Agnes dorten bleiben, bis die Hochzeit vorüber ist. Sie hat sich aber so verworren ausgedrückt, daß ich ihren Worten nicht entnehmen konnte, was sie damit bezweckt. Auch hat es so geklungen, als wollte sie überhaupt aus dem Hause gehn. Ob das Frauenzimmer nicht ein wenig gestört im Kopfe ist? Vorgestern war ein Geklapper und Gepolter in der Küche, und wie ich nachsehe, liegen mindestens sechs Teller zerbrochen auf der Erde, dabei droht sie noch, mich mit dem Spülwasser anzuschütten und schimpft gotteslästerlich. Wie ist denn das? Kann sie denn so mir nichts dir nichts mit dem Kind zur Hadebuschin übersiedeln?«

Daniel blieb die Antwort schuldig. Der Gedanke an Philippine erfüllte ihn auf einmal mit Angst vor Unheil. Es schien ihm, daß er sie gewähren lassen müsse.


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