Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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12

Lenore hatte sich nicht getäuscht, der Inspektor freute sich wirklich mit Daniel und Benda. »Ich bin ganz stolz auf Sie,« sagte er zu Daniel, »und daß Sie heute noch zu mir kommen, das rechn' ich Ihnen hoch an.«

»Wären Sie eine halbe Stunde länger geblieben, so würden Sie vielleicht anders reden,« erwiderte Daniel.

In aller Kürze berichtete Lenore ihrem Vater, was sich im Konzertsaal ereignet hatte. Der Inspektor lauschte verwundert und heftete einen forschenden Blick auf Daniel. »Mußte es sein?« fragte er stirnrunzelnd.

»Jawohl, es mußte sein,« versetzte Daniel.

»Wenn es sein hat müssen, dann ist es gut, daß es war,« lautete die gelassene Antwort.

Lenore nahm die Hand ihres Vaters, deren Rücken große, gelbe Flecken hatte, und küßte sie. Dann deckte sie den Tisch und richtete alles zur Mahlzeit her, wobei sie fröhlich aus- und einging und in der Küche das Wasser zum Tee auf den Kocher stellte. Nach Gertrud hatte sie sich gleich erkundigt, der Inspektor hatte sich jedoch aus irgendwelchen Gründen nicht näher äußern wollen und was er sagte, gab keinen Anlaß zu Befürchtungen.

Endlich konnten sich alle zu Tisch setzen. Lenore war sehr zufrieden, die drei ihr lieben Menschen hier vereinigt zu sehen, und ihr Gemüt war voll Dankbarkeit gegen alle. Aber sie hatte auch Hunger und aß vier Butterbrote hintereinander. Als sie bemerkte, daß Daniel nicht zugriff, trat sie hinter seinen Stuhl, beugte den Kopf so weit nieder, daß ihre Haare seine Schläfe kitzelten und sagte: »Geniert er sich vielleicht? Oder sind die Würste nicht nach seinem Geschmack? Will er was anderes haben?«

Daniel wich ärgerlich mit dem Kopf aus; jedoch im Grund war ihm die Berührung des Mädchens angenehm, ja beinahe erlösend, da seine Gedanken immer wieder eigensinnig zu jener Flüchtenden zurückkehrten, deren Gegenwart er vermißte, ohne sie herbeizuwünschen.

Benda sprach über die politischen Veränderungen, die durch den Tod Gambettas zu besorgen waren; der Inspektor, als ein Mann, der allen das Vaterland betreffenden Angelegenheiten lebendige Teilnahme widmete, wußte über die zwischen Deutschland und Frankreich herrschende Spannung einige wahre und humane Worte zu sagen, da öffnete sich Gertruds Kammertüre und Gertrud trat auf die Schwelle.

Ein tiefes Schweigen entstand und alle blickten nach ihr hin.

Sonderbarerweise hatte sie ein anderes Kleid an als im Konzert; es war das grüne, in welchem Daniel sie zum erstenmal gesehen. Doch der Inspektor und Lenore beachteten dies kaum; sie waren durch den veränderten Ausdruck in Gertruds Gesicht aufs äußerste betroffen. Auch Daniel war erstaunt und konnte den Blick nicht abwenden.

Das Gesicht war weicher, freier und heller. Die Unruhe, die es stets wie ein trüber Schleier umgeben hatte, war daraus gewichen. Sogar die Form schien eine andere geworden, die Brauen schienen höher gewölbt, das Oval der Wangen schien zarter.

Sie lehnte sich an den Pfosten der Türe; auch den Kopf lehnte sie an. Der herabhängende linke Arm hatte etwas unnennbar Lässiges, die rechte Hand war an die Brust gedrückt; so betrachtete sie die um den Tisch Sitzenden mit schüchternem und sanftem Lächeln.

Im ersten Augenblick glaubte der Inspektor, sie habe den Verstand verloren. Er sprang auf und eilte zu ihr hin. Aber sie reichte ihm die Hand und ließ sich willig an den Tisch führen.

Plötzlich heftete sie den Blick stumm auf Daniel. Der erhob sich unwillkürlich und packte die Lehne seines Stuhles. Er verfärbte sich und zog die Mundwinkel nervös in die Höhe. Aber als Gertrud ihre Hand aus der des Vaters löste und sie ihm reichte, als er die Hand genommen hatte und sein Auge, machtvoll angezogen, dem ihren begegnete, wich der beklemmende Druck, denn was er in ihren Augen las, war eine rückhaltlose und unwiderrufliche Übergabe ihrer ganzen Person. Da wurde auch sein Blick sanft und dankbar und hatte einen schwärmerischen Glanz.

Der sinnliche Zauber war es nicht allein, der ihn zur Erwiderung eines vor der Welt kundgegebenen Gefühles zwang; tiefer berührte ihn, daß sie so kam, wie sie kam, als eine Reuige und Bekehrte. Tiefer berührte ihn die erhabene Gewißheit, die sie ihm schenkte, daß er eine Seele zu verwandeln und zu erneuen vermocht hatte.

Es kettete ihn diese Gewißheit fester an Gertrud als ihr Blick, ihr Antlitz und ihr Leib. Und er sah jetzt das alles, den Blick, das Antlitz und den Leib.

Der Inspektor ahnte. Ihm war, als müsse er das Mädchen in die Arme nehmen und mit ihr fliehen. Bilder künftigen Unheils umringten ihn, und die Hoffnung, die er eben noch für Gertrud gehegt, war vernichtet.

Benda starrte schweigend auf seinen Teller. Desungeachtet, wie wenn er noch andere Augen besäße als die wirklichen, nahm er wahr, daß Lenores Hände und Lippen zitterten, daß sie von Sekunde zu Sekunde bleicher wurde, daß sie bald den Vater, bald die Schwester, bald Daniel ungläubig ansah, daß sie zuletzt, von einer Art Mattigkeit befallen, sich aus dem Kreis des Lampenlichts stahl und sich im Erker auf einen Schemel setzte.

Aber als dann alle wieder Platz genommen hatten, Gertrud zwischen Benda und ihrem Vater, kam auch Lenore herbei und setzte sich still neben Daniel. Sie hörte nicht auf, Gertrud mit atemloser Verwunderung zu mustern. Und Gertrud lächelte wie vorhin an der Türe, schüchtern und leidenschaftlich.

Es kam kein ersprießliches Gespräch mehr in Gang, daher dünkte es Benda am besten, den Freund zum Aufbruch zu mahnen. Sie dankten dem Inspektor für die freundliche Bewirtung und verabschiedeten sich. Jordan geleitete sie hinunter und sperrte ihnen das Tor auf. Als er zurückkehrte, ging Lenore gerade in ihr Zimmer. »Nun, Lenore, kein Gutenachtgruß für mich?« rief er ihr nach.

Sie drehte sich um, nickte bloß und schloß die Türe.

Gertrud saß noch am Tisch. Während der Inspektor in der Stube auf- und abwanderte, eilte sie plötzlich in seinen Weg, zwang ihn, stehen zu bleiben, warf die Arme um seinen Hals und küßte ihn auf die Stirn. Das hatte sie nie zuvor getan.

Auch sie war schlafen gegangen. Den Inspektor bedrängte ein ungewohntes Gefühl der Verlassenheit. Er hörte, wie die Gattertür auf- und wieder zugesperrt wurde und wie Schritte schallten. Es war Benno, der endlich nach Hause kam. Jordan erwartete, daß sein Sohn noch hereinkommen werde, da er ja durch die Spalten der Türe das Licht sehen mußte. Aber Benno trug offenbar kein Verlangen, den Vater zu sehen, er ging in seine am andern Ende des Flurs gelegene Kammer und schlug die Türe zu wie ein Hausknecht.

Jedes ist in seiner Kammer, dachte der Inspektor, und von keinem weiß ich etwas.

Er schüttelte den Kopf, nahm die Hängelampe aus der Tragschale und verließ, sie vorsichtig haltend, das Zimmer.


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