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In den gewundenen und finstern Gäßchen hinter der Stadtmauer stehen die kleinen Häuser mit großen Nummern und farbigen Laternen. Sie sind von einem süßlich-fauligen Geruch erfüllt und aus mühsam aufgeschmückten morschen Rumpelkammern zusammengesetzt. Durch die geschlossenen Fensterläden dringt allnächtlich gellendes Gelächter, und den Eintretenden empfangen halbnackte Scheusale und nötigen ihn auf scheusälige, mit rotem Plüsch überzogene Sessel und Sofas.
Der Bürger nennt diese Baracken Lasterhöhlen, und an die Bewohnerinnen mit den gedunsenen oder abgezehrten Körpern, den traurig oder trunken glotzenden Augen denkt er zwischen Freitag und Sonntag mit lustvollem Grauen.
Dahin lenkte Herr Carovius seine Schritte. Weil es nur ein Schatten war, den er umarmte in Stunden, wo seine von allem Gift der Erde entzündete Phantasie einen Menschenleib beschworen hatte, ergrimmte er, ging hin und kaufte sich einen Menschenleib.
Nachdem er in einem halben Dutzend dieser Häuser gewesen, jubelnd begrüßt und unter unflätigen Beschimpfungen entlassen worden war, fand er schließlich, was er suchte, ein Geschöpf, dessen Abgefeimtheit noch nicht verjährt war, das noch Menschenzüge hatte und dessen Gestalt und Wesen eine Erinnerung wachzuhalten vermochte, wenn man entschlossen war, zu sehen, was man sehen wollte, und zu vergessen, was man vergessen wollte.
Sie hieß Lena. Holder Anklang an eine begehrte Wirklichkeit. Er folgte ihr aus dem Kreis der Gefährtinnen in die elende Zelle zwischen Winkelstiege und Dachwinkel. Er klimperte mit Geld und gab seine Befehle. Die Nymphe mußte ein Straßenkleid antun, einen bescheidenen Hut auf den Kopf setzen und einen Schleier über das rohgeschminkte Gesicht ziehen. Hierauf näherte er sich ihr, redete sie höflich an und küßte ihr die Hand. Niemals hatte er sich gegen irgendeine Dame draußen in der Welt so fein und zurückhaltend benommen.
Der Dirne ward es angst und sie lief davon. Sie bedurfte der Belehrung. Durch die Hüterin des Hauses ward ihr Belehrung zuteil. Denn Herr Carovius klimperte mit Geld. »Sie müssen Nachsicht haben,« sagte die Hüterin, »wir sind für so was Raffiniertes nicht eingerichtet.«
Er kam wieder. Lena war belehrt. Allmählich fand sie sich in ihre Rolle.
»Offengestanden,« sagte er zu Lena, »ich habe keine Übung in den Künsten der Liebe. Ich war zu stolz, den Kotau vor dem berockten und bemiederten Idol zu machen. Weibchen ist Weibchen, Männchen ist Männchen. Da lügen sie denn einander vor, daß jedes Weibchen ein besonderes Weibchen, jedes Männchen ein besonderes Männchen sei. Stumpfsinn.«
Die Dirne grinste.
Er ging auf und ab; der Raum erlaubte ihm nur drei Schritte nach jeder Seite. Er entsann sich des Ausdrucks, den Lenores Gesicht während der Aufführung der Symphonie gezeigt, und den er aus dem Hinterhalt gierig beobachtet hatte. Er geriet in Zorn. »Du wirst dir doch nicht einbilden, daß mit solchen dilettantischen Jämmerlichkeiten ein Fortschritt erzielt wird?« keifte er. »Es ist der reine Hokuspokus. In der Kunst gibt es überhaupt keinen Fortschritt, so wenig wie es in der Bahn der Gestirne einen Fortschritt gibt. Hör mal zu!«
Und er brüllte das wuchtige Anfangsmotiv aus der Sonata quasi una fantasia von Mozart. »Da–dada–da–daddaa! Ist darüber hinaus ein Fortschritt möglich? Laß dich doch nicht beschwatzen, mein Engel. Sei aufrichtig gegen dich selbst. Er hat dich narkotisiert. In deinem arglosen Herzchen ist das unterste zu oberst gekehrt. Schau mich doch an! Fürchtest du dich vor mir? Ich tue für dich, was in meinen Kräften steht. Gib mir die Hand. Sprich mit mir.«
Die Dirne mußte verlangend die Arme ausstrecken, und er nahm mit gravitätischer Umständlichkeit neben ihr Platz. Hierauf zog er die Nadel aus ihrem Hut, legte den Hut zärtlich beiseite, und sie mußte den Kopf an seine Schulter lehnen.
Dann verfiel er in träumerisches Sinnen.