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Bei sinkender Nacht betrat Daniel das Häuschen der Mutter. Als er die Mutter gewahrte, wußte er, daß ein Unglück geschehen war.
Eva war fort. Eines Abends, vor vier Wochen, war sie verschwunden gewesen. Eine Seiltänzergesellschaft hatte Vorstellungen im Städtchen gegeben, die wurde beschuldigt, das schöne Kind geraubt zu haben. In dieser Überzeugung hatten sich die Eschenbacher Leute auch dann nicht erschüttern lassen, als die Gendarmerie die umherreisende Gesellschaft aufgegriffen hatte, ohne des vermißten Mädchens habhaft zu werden.
Alle Gemeinden des Kreises waren alarmiert worden, im ganzen Land wurden die Nachforschungen betrieben, noch bis zur Stunde; vergebens, es war nirgends eine Spur zu finden, der Fall war den Behörden wie den Einwohnern ein Rätsel.
Die Wälder wurden durchsucht, die Weiher abgelassen, die Landstreicher befragt, vergebens. Da hatte eines Tages der Bürgermeister einen Brief ohne Unterschrift bekommen, und sein Inhalt war dieser: »Das Mädchen, nach dem ihr fahndet, ist wohl aufgehoben. Es ist kein Zwang an ihr geübt worden, freiwillig und aus Liebe zur Kunst ist sie mit denen gegangen, bei welchen sie weilt. Sie schickt ihrer Großmutter zärtliche Grüße und hofft, sie einst wiederzusehen, wenn sie erreicht hat, was sie sich wünscht.«
Darunter hatte Eva mit Federzügen, die Marianne Nothafft als ziemlich zweifellos von dem Kinde herrührend bezeichnet hatte, geschrieben: Das ist wahr. Lebwohl, Großmütterchen!
Die Leute, die mit Marianne um den Verlust des Kindes von Eschenbach trauerten, sagten, wenn es Eva wirklich sei, die diese Zeilen geschrieben hatte, so sei sie eben von den Räubern dazu genötigt worden.
Der Brief trug den Poststempel einer rheinpfälzischen Stadt. Ein Telegramm ging hinüber, die Antwort lautete, es habe vor kurzem eine Gesellschaft von Gauklern dorten gastiert, aber sie seien längst abgereist; auf welcher Straße sei nicht bekannt, wahrscheinlich nach Frankreich hinüber.
Marianne war gebrochen. Sie hatte keine Lebenslust mehr, sogar über die Ankunft Daniels bekundete sie keine Freude.
Und Daniel war es, wie wenn der hellste Stern an seinem Himmel untergegangen sei. Als er das Furchtbare aufgefaßt hatte, schlich er in die Dachstube, warf sich auf das verlassene Bett seiner Tochter und schluchzte. Weinst du, Mann, weinst du endlich? schien eine Stimme zu rufen.
An vielen Abenden saß er bei der Mutter, und sie grübelten beide vor sich hin. Einmal fing Marianne an zu sprechen, und sie erzählte von Eva. Die Vorliebe des Kindes für Schaustellungen aller Art habe sie stets beunruhigt; vor Jahren sei eine Truppe wandernder Komödianten im Ort gewesen, da habe die damals erst Achtjährige eine leidenschaftliche Erregung gezeigt und sich vom Morgen bis zum Abend vor der Bude herumgetrieben, in welcher die Leute gespielt. Auch habe sie Bekanntschaft mit einigen von ihnen geschlossen, und eine junge Person habe sie dann zu der Aufführung eines Stückes mitgenommen. So oft ein Zirkus auf dem Jahrmarkt gewesen, hätte man sie kaum bändigen können; »bisweilen dacht ich mir, es muß Zigeunerblut in dem Kind sein,« sagte Marianne traurig, »aber es war ein so gutes und folgsames Kind sonst.«
Ein andermal erzählte sie folgendes. An einem Sonntag im Frühjahr habe sie einen Spaziergang mit Eva gemacht. Es sei spät geworden, auf dem Rückweg sei die Nacht eingebrochen, sie hätten durch den Wald gehen gemußt, da habe sie sich müde auf einen Baumstumpf gesetzt, um ein bißchen zu rasten. Der Mond habe geschienen, es war eine kleine Lichtung da, plötzlich sei Eva aufgesprungen und habe zu tanzen begonnen. »Das war wunderlich anzusehen,« schloß Marianne ihren Bericht, »das schlanke, zarte Figürchen, wie es sich im Mondschein und auf dem Moose lautlos um sich selbst gedreht hat. Aber mir hat's das Herz zusammengeschnürt, und mir war, als sollte sie nicht mehr lange bei mir bleiben.«
Daniel schwieg. O, zauberisches Ding du, dachte er, Erbteil und Geschick.
Drei Wochen blieb er bei der Mutter, dann engte ihn das Gewohnte zu sehr ein, Haus und Städtchen, und er nahm Abschied. Er fuhr nach Wien; dort hatte der Kustode an einem kaiserlichen Institut wichtige alte Handschriften für ihn liegen.
Anderthalb Monate später bekam er einen Brief, der ihn erst nach allerlei Irrfahrten erreicht hatte. Er meldete ihm den Tod seiner Mutter. Der Lehrer von Eschenbach schrieb ihm dieses mit dem Hinzufügen, daß die Greisin in der Nacht friedlich und schnell verschieden sei.
Ein zweiter Brief folgte, darin wurde er um Anweisungen gebeten, was mit dem Häuschen geschehen solle, und ob es zum Verkauf auszuschreiben sei; ein Nachbar, der Getreidehändler Merk, habe sich freiwillig angeboten, Daniels Interessen zu vertreten.
Daniel antwortete, sie möchten tun, was ihnen am besten schiene. Es lasteten Schulden auf dem Häuschen, und der Verkauf konnte keinen großen Ertrag bringen.
Er verkroch sich in eine Einöde.