Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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9

Die Wanderoper zog durch die kleinen Städte, deren es zwischen Donau und Main und Saale und Neckar die Fülle gibt, und die Dauer ihres jeweiligen Aufenthaltes hing natürlich von der Teilnahme des Publikums ab.

»Die Provinz ist das verzauberte Dornröschen,« sagte der Impresario Dörmaul zu Wurzelmann und Daniel, »die Provinz schläft noch, und ihr müßt sie wecken, indem ihr den Kuß der Muse auf ihre Stirn drückt.«

Aber der Impresario hielt dabei die Taschen zu; die Prinzen, die das Dornröschen aus dem Schlummer reißen sollten, hatten nicht die Mittel zu einem standesgemäßen Auftreten, und um ihren Hofstaat sah es auch ziemlich windig aus.

Der Tenor hatte den Zenith des Lebens längst überschritten, und sein Schmerbauch tat der Glaubhaftigkeit der Heldenfiguren, die er zu spielen hatte, großen Abbruch. Der Buffo war ein unverbesserlicher Säufer und wurde wegen nächtlicher Exzesse von der Polizei oftmals hinter Schloß und Riegel gesetzt. Der Bariton führte mit Hilfe zweier Winkeladvokaten einen Erbschaftsprozeß, und aus Ärger über die Finten der Gegenpartei versagte ihm oft die Stimme. Die Sopranistin lag stets mit sämtlichen Kollegen in Zank und Hader, und die Altistin war ein ränkesüchtiger Teufel ohne Talent. Daneben gab es noch ein Dutzend Eleven und Elevinnen, die sich langweilten, Schabernack trieben, Hungerlöhne bezogen und nichts gelernt hatten.

Auch die Orchestermitglieder waren traurige Gestalten. Nicht selten hatte einer oder der andere sein Instrument ins Pfandhaus getragen; einmal mußte eine Vorstellung abgesagt werden, weil sich die Geiger bei einer Dorfkirchweih verspäteten, wo sie zum Tanz aufspielten, um ihr kümmerliches Einkommen zu verbessern. Der Inspizient, der zugleich Kulissenschieber, Souffleur, Billettverkäufer und Besucher der Zeitungsredaktionen war, zeigte sich keinem dieser Ämter gewachsen und ergriff im zweiten Jahr mit einer Elevin und einer Tageseinnahme die Flucht.

Einmal waren die Kostüme an einen falschen Ort geschickt worden, und es mußte »die weiße Dame« in Lodenkitteln, verschossenen Sammetröcken, schmierigen Kattunblusen und Pariser Pölsterchen gespielt werden.

Ein anderes Mal bestand in der Oper »Martha oder der Markt zu Richmond« die Volksmenge aus einer übelgelaunten jungen Dame, einem Kellner, den man aus einer Heringsbraterei geholt hatte und dem Pförtner eines Waisenhauses, da das Chorpersonal wegen versäumter Lohnauszahlung den Dienst verweigerte.

In Karlstadt mußte der letzte Akt der »lustigen Weiber von Windsor« unaufgeführt bleiben, weil in der Pause zwischen Frau Flut und Falstaff eine Prügelei entstanden war und jene Dame dem unglücklichen Sänger einen Hautlappen aus der Nase gekratzt hatte.

Wenn die musikalische Wanderschmiere, wie der stellvertretende Direktor Wurzelmann seine Truppe nannte, desungeachtet leidliche Einnahmen erzielte, war es den übermenschlichen Anstrengungen Daniels zu danken. Wurzelmann war beständig in Liebeleien verstrickt, führte eine verderbte Günstlingswirtschaft ein und ergab sich immer mehr der Trägheit.

Daniel mußte die Musiker zu den Proben aus ihren Betten ziehen; Daniel mußte korrepetieren; Daniel mußte am Dirigentenpult mitsingen, wenn der Chor zu dünn klang; Daniel mußte Rollen verteilen, widersetzliche Frauenzimmer bändigen, hirnlos brüllende Dilettanten dem Gefüge eines Werkes unterordnen, das er selbst meist verabscheute; mußte Anfänger drillen, Partituren kürzen, Stimmen transponieren, mit kläglich unzureichenden Kräften Wirkungen hervorzaubern und von morgens früh bis abends spät gegen Schmähsucht, Fahrlässigkeit und Unfähigkeit im Kampfe liegen.

Es liebte ihn keiner dafür. Sie fürchteten ihn bloß. Sie schworen ihm Rache, aber sie duckten sich. Er hatte eine Art, sie kalt zu behandeln, daß sie sich wie Verbrecher erschienen. Er hatte einen Blick eisiger Geringschätzung, unter dem sich die Faust des Getroffenen ballte. Aber sie ordneten sich knirschend einer Macht unter, die ihnen unheimlich dünkte, die jedoch in nichts anderm bestand, als daß er seine Pflicht erfüllte und sie die ihre nicht.

Am Ende jedes Vierteljahres trat der Impresario Dörmaul auf den Plan, um den Rechnungsabschluß persönlich vorzunehmen. Seine Anwesenheit wurde durch eine Musteraufführung von »Fra Diavolo« oder der »Regimentstochter,« oder von »Froufrou« gefeiert. Der Buffo betrank sich nicht, der Bariton ruhte von den Strapazen seines Prozesses, die Altistin hatte ein holdes Lächeln für das beifallslustige Haus, die Sopranistin war friedfertig wie eine Mine nach der Explosion, von den Choristen war keiner im Wirtshaus geblieben, und da Wurzelmann dirigierte, und das Orchester nicht den Basiliskenblick des Kapellmeisters Nothafft auf sich brennen fühlte, bewegte es sich freier im Takt und brachte einen weit gefälligeren Ohrenschmaus hervor als sonst.

Der Impresario Dörmaul kargte nicht mit seiner Anerkennung. »Bravo Wurzelmann!« rief er, »noch ein Jährlein geschuftet, und ich bringe Sie ans Königliche Opernhaus.«

»Auch der Nothafft soll zu Amt und Würden kommen,« sagte er, »obwohl ich die Dummheit begangen habe, seine Kompositionen zu drucken und die ganze Makulatur in meinen Magazinen liegt wie ein Pfund Backsteinkäse in einem kranken Magen.«

Der Impresario Dörmaul trug schwarz und weiß karierte Hosen von überseeischem Schnitt, eine Weste, die wie eine Tapete aus gepreßtem Leder aussah und über der eine schwere goldene Kette mit zahllosen Anhängseln baumelte, einen Gehrock, der bis zu den Waden reichte, eine ziegelrote Krawatte mit einem Diamanten, so groß wie der Kohinor und so falsch wie Aprilsonne, und einen grauseidenen Zylinder, den er nur vor Geheimräten, Generälen und Polizeipräsidenten lüpfte.

Einem so beschaffenen Mann wagte Daniel zu erwidern: »Hätten Sie Käse gegessen, so hätten Sie ihn wenigstens verdaut. Ihre vollen Magazine sind mir noch lieber als mancher Kopf, der leer bleiben würde, auch wenn man die Matthäuspassion hineinstopfen würde.«

Der Impresario Dörmaul entschloß sich, zu lachen. »Oho, mein Bester,« sagte er und schob den Zylinder weit zurück, »Sie blähen sich. Nehmen Sie sich in acht, daß Sie nicht platzen. Als Hänschen hinterm Ofen saß, da war er stolz vor Grütze, doch wie er auf die Straße ging, da fiel er in die Pfütze.«

Das Knechtlein kicherte. Daniel wußte längst, daß das Knechtlein gegen ihn wühlte. In aller Unschuld, denn Halbseelen können bewundern und verraten zugleich.

»Der Neid ist meine einzige Tugend,« sagte Wurzelmann ganz offen, »ich bin ein Genie des Neides.«

Daniel war solchem Zynismus nicht gewachsen; Wurzelmann machte ihn dumm. Aber er brauchte ihn; er hatte keinen anderen Menschen, mit dem er von sich und seiner Arbeit sprechen konnte. Denn trotz der Überbürdung, die sein Amt mit sich brachte, gelang es ihm, täglich einige Stunden für sich zu erobern, und gerade der Druck von allen Seiten trieb die Flamme hoch hinan.

In jenen Jahren zog er die Grenzen, um Herr in seinem Bezirk zu werden. Er wandte sich zum Lied; er wählte die gebändigten und klaren Formen der Kammermusik; er studierte mit unablässigem Bemühen die alten Meister und entnahm ihren Schöpfungen die Regel, die gegen Willkür und Verwilderung als ein Damm zu errichten war.

Er verhehlte es sich keineswegs, daß er dadurch den Menschen den Weg zu sich erschwerte und vielleicht für immer Verzicht leistete auf Lohn und Erfolg und auf die Erleichterungen des Daseins, die den Gefühlsschwelgern sicher sind.

Wenn er nun mit Wurzelmann spät nachts in einem Wirtshauszimmer saß und ihm Notenblatt um Notenblatt reichte, auch wohl zur Verdeutlichung eine Stimme sang, eine Begleitung lebhaft ausmalte, die Führung einer Melodie rühmte, die Besonderheit eines Rhythmus erklärte, dann staunte das Knechtlein und wehrte sich. Es war ihm alles das gar zu gründlich neu. Bewies Daniel, daß das Neue nicht neu, daß bloß die zerrütteten Seelen des Jahrhunderts die Kraft verloren hatten, ungebrochene Linien in ihrer Reinheit aufzunehmen, so machte sich Wurzelmann zum Befürworter moderner Freiheit und sagte, es müsse dem einzelnen alles verstattet sein, was er durch sein Können zu rechtfertigen vermöge.

Am Widerpart war Daniel nichts gelegen. Als ob nicht im bewährt schönen Gefäß der reichste Inhalt, des Lebens ganze Fülle zu bieten wäre! Geize er denn damit? War Weh und Glück, zum Schaudern nah, durch die Gebundenheit minder vernehmlich? Welch eine vertrackte Bosheit liegt darin, wie so ein Mensch sich zusperrt, dachte Daniel; aus Herrschsucht mag er nicht fühlen und aus Witzigkeit nicht denken.

Und so zogen sie von Ort zu Ort, Monat um Monat, Jahr um Jahr. Die Wanderoper hatte nun schon ihre festen Überlieferungen, ihre skandalöse Chronik, ihre eingeübten Lockmittel, ihre Stammgäste, ihre bevorzugten und ihre gemiedenen Stätten.

Das Lokalblatt brachte einen Begrüßungsartikel; die jungen Leute standen auf der Straße, um die Damen des Theaters lüstern zu begaffen; der Major a. D. kaufte einen Sperrsitz für die erste Vorstellung; der Barbier trug seine Dienste an; das Professorenkollegium der Lateinschule hielt Versammlungen ab, in denen beraten wurde, ob den Schülern der Besuch der Oper erlaubt werden konnte; der christliche Gesellenverein erhob Einspruch gegen die nackten Schultern der Sängerinnen; die Mitglieder des adligen Kasinos rümpften die Nasen über die Leistungen der Truppe; die Polizei wollte die Bretterbude oder den Hotelsaal, in welchem gespielt wurde, feuergefährlich finden; die Frau Bergrätin verliebte sich in den Bariton, und ihr Gatte nahm einige Schurken in Sold, die den gefeierten Künstler von der Galerie herunter auszischten; die Nörgler forderten mehr Lustigkeit, »Zar und Zimmermann« war ihnen zu langweilig, die »Stumme von Portici« zu abgedroschen; sie wünschten »Madame Angot« und »Orpheus in der Unterwelt«.

Es war immer etwas los.

Und es graute Daniel vor diesen Menschen, vor ihren Geschäften, ihren Vergnügungen und den Kadavern ihrer Ideale. Es graute ihm vor ihrem Lachen und vor ihrer Trübseligkeit, vor den Stuben, aus denen sie krochen, vor den Spionen an ihren Fenstern, vor ihren Metzgerläden und Gasthäusern und Zeitungen, vor ihren Sonntagen und ihren Werktagen. Die Welt rückte ihm hart auf den Leib; er mußte jetzt den Menschen ins Gesicht sehen, und sie zwangen ihn, daß er mit ihnen feilschte, um Geld, um Worte, um Gefühle und um Ideen.

Aber auch anderes lernte er sehen; die Wälder an den Ufern des Mains; die weithingedehnten Triften der Frankenhöhe; die schwermütigen Ebenen des mittleren Landes; das formenreiche Kleingebirge des Jura; die alten Städte mit ihren Mauern und Domen und finsteren Gassen und verödeten Schlössern. Da war dann beschwichtigende Luft zwischen ihm und den Menschen, da sah er die Alten und die Jungen, die Schönen und die Häßlichen, die Heiteren und die Traurigen, die Armen und die Reichen so fern und still, und sie gaben ihm von ihrem Reichtum und von ihrer Armut, von ihrer Jugend und von ihrem Alter, von ihrer Schönheit und von ihrer Häßlichkeit, von ihrer Freude und von ihrem Schmerz gleicherweise.

Und das Land gab ihm die Wälder, die Wiesen, die Bäche und Ströme, die Wolken, die Vögel und alles, was unter der Erde ist.


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