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Die dritte Fidelio-Ouvertüre sollte erst im eigentlichen Abendkonzert an der Spitze des Programms stehen. Sie bot nach Döderleins Meinung keine Schwierigkeiten; die Generalprobe war vornehmlich den Werken des Neulings gewidmet. Sein Taktstock gab das Zeichen zum Beginn, und es wurde ruhig im Saal.
Mit einem Zusammenspiel der Bläser setzte die nürnbergische Serenade ein. Es war ein kräftiges und burschikoses Thema, das dann die Geigen übernahmen, um es launisch zu zerpflücken und allmählich in das Bereich der Träumerei zu führen. Da wurde die Nacht lebendig, da surrte ein süßer Sommerwind, da tanzten Leuchtkäfer; gotische Dome erhoben sich in der schwülen Dunkelheit, und kleinbürgerliche Gestalten krochen in verwinkelten Gassen; ein Ruf großer Vergangenheit und Mahnung der Zukunft schallten in das Behagen an der Gegenwart, Heroisches mischte sich mit Scherzhaftem, Fantastisches mit Burleskem, die Romantik fand ihr Widerspiel, alles im Fluß echter Melodie, schlank im Bau, reizend in der Gliederung.
Die Fachmusiker waren sattsam verwundert, und ihre Verwunderung gewann in den damaligen Berichten einen starken Ausdruck. Freilich wurde das anerkennende Wort getrübt durch das häßliche Ende, das die Generalprobe nehmen sollte, aber ein Mann von innerer Unabhängigkeit, den beklagenswerte Schicksale aus einem bedeutenden Wirkungskreis in den beschränkten der Provinz geworfen hatten, schrieb wie folgt: »Dieser Künstler hätte wohl das Vermögen, ein Wahr- und Flammenzeichen in unserer Zeit zu werden. Ihn bildete die Natur, ihn erzog sein Stern. Verleihe ihm doch der Himmel die Kraft und die Geduld, die zur zweiten höheren Menschwerdung eines Künstlers unerläßlich sind! Ließe er ihn doch nicht zu frühe nach den reifenden Früchten langen und im Taumel der niedrigen Leidenschaften die Stimme seines Herzens überhören, damit der Flug, dem sich der Azur des Ruhmes aufgetan, nicht wieder sich herunter wende in die Nacht.«
Derselbe Kenner erklärte die Komposition Vineta für minder erfindungsreich und ihre Instrumentation an einer anfängerhaften Magerkeit krankend. Trotzdem fand auch dieses Stück vielen Beifall. Der Impresario Dörmaul klatschte, daß ihm der Schweiß ausbrach. Wurzelmann war wie besessen. Der alte Herold lachte über das ganze Gesicht. Die Langmähnigen konnten sich zwar des Neides nicht entschlagen, kargten jedoch nicht mit ihrem Jubel.
Aber wie war es Herrn Carovius ums Herz! Der Speichel schmeckte ihm bitter, der Leib tat ihm weh, und als sich Andreas Döderlein dankend verneigte, stieß er eine höhnische Lache aus. Und Jason Philipp Schimmelweis! Ihm wäre wohler gewesen, wenn das Händegeklatsch von ebensovielen Ohrfeigen hergerührt hätte, die er dem Schandbuben insgeheim zudachte. Das Unterste der Welt war zu oberst gekehrt, er faßte sich an die Stirn, er schüttelte den Kopf, es lag ihm nahe zu rufen: ihr Betrüger! ihr Betrogenen! hört mich doch, ich kenne ja den Menschen, der euch am Narrenseil führt! Und er wartete, ob sich das Mißverständnis, der große Schwindel, nicht am Ende doch aufklären würde. Er wartete nicht umsonst.
Schon nach der Serenade war dem Inspektor Jordan die fieberhafte Blässe Gertruds aufgefallen. Er fragte, ob sie sich krank fühle, sie gab keine Antwort. Während des zweiten Stückes preßte sie beständig und wie im Krampf die Hände gegen die Brust. Ihre Augen waren bald erloschen, bald lohten sie in einem unheimlichen Feuer. Unmittelbar nachdem das Stück zu Ende war, wandte sie sich an ihren Vater und bat ihn, er möge sie nach Hause begleiten. Der Inspektor erschrak, die Umsitzenden wurden aufmerksam und betrachteten mitleidig das bleiche Gesicht des jungen Mädchens. Lenore wollte gleichfalls aufbrechen, aber Gertrud flüsterte ihr herrisch zu, sie solle bleiben. Mit Gertruds Gemütsart hinlänglich bekannt, dachte sie an einen vorübergehenden Anfall und beruhigte sich dabei.
Daniel stand gerade mit Benda und Wurzelmann an der Türe. Er war sehr erregt, und die beiden bemühten sich, seine gegen Andreas Döderlein geäußerte Erbitterung zu beschwichtigen. »Der Mann versteht vom Handwerk nichts,« knirschte er und wies alle Beschönigungsversuche zurück; »von dem, was ich gemacht habe, sind nur Trümmer übrig. Er verschleppt die Tempi, hält keine Bindung, zertrampelt jedes Piano, steigert nicht, retardiert nicht, es ist ein Jammer, ich halt's nicht aus, so können die Sachen öffentlich nicht gespielt werden.«
Da gingen Gertrud und der Inspektor rasch und ohne Gruß vorbei. Daniel stutzte. Der entseelte Ausdruck in Gertruds fahlem Gesicht ängstigte ihn. Zugleich fühlte er, als ob ein Hammerschlag ihn getroffen hätte, daß sein Schicksal an dieses Wesen unauflöslich gekettet war. Ihr Schritt, ihr Auge, ihr Mund, alles war wie in ihm selber drinnen, und der Zorn darüber, daß sie ohne Gruß vorbeiging, fremd, verschlossen und feindselig auch jetzt, nach dieser Stunde, verdunkelte seinen Geist. Von da an war er nicht mehr Herr seiner Handlungen.
Wie nun die Beethovensche Tonflut in ihrer hochgewaltigen Wildheit aus dem Orchester emporstürmen sollte und statt dessen ein verworrenes, trübes Getöse erklang, wurde er von einer großen Unruhe ergriffen. Näher als bei dem eigenen ging es ihm, das fremde Gebilde verunstaltet zu sehen, dessen zarte Seele und Titanenwuchs ihm vertraut war wie sonst nur wenige Dinge auf der Welt. Das Trompetensolo erschallte nicht aus scheinbar geisterhafter Ferne, sondern nah und platt. Er fing an zu zittern. Und als das wehvoll ruhige Andante von der rohen Lenkerhand seines Maßes beraubt wurde und im Gemeinen zerflatterte, da ertrug er es nicht mehr. Er stürzte aufs Podium, umklammerte den Arm des Dirigenten mit Eisenfingern und schrie ihn an: »Genug jetzt! So verfährt man nicht mit einem Götterwerk!«
Die Leute erhoben sich von ihren Sitzen. Die Instrumente verstummten plötzlich, nur ein Cello wimmerte noch. Andreas Döderlein prallte zurück, starrte den tollen Menschen mit aufgerissenem Mund an, legte den Taktstock auf das Notenpult und stammelte: »Beim Zeus, das ist unerhört.« Die Musiker verließen ihre Plätze und umringten den Unbegreiflichen, der Tumult im Publikum wurde immer größer, es wurde gefragt, gedroht, beruhigt, geschimpft, und oben stand noch immer, mit geducktem Kopf und gekrümmtem Rücken, zornig und rachsüchtig, Daniel.
Ein wenig später saß Andreas Döderlein am Tisch des Künstlerzimmers. Seine Haltung glich der des Kaisers Barbarossa im Kyffhäuser. Er hatte gegründeten Anlaß, schmerzliche Betrachtungen über die Verkommenheit und Pietätlosigkeit der Jugend zu äußern. Es war überflüssig, darauf hinzuweisen, daß ein Mensch, der einer solchen Tat fähig war, aus den Reihen derer, die Rücksicht und Hilfe beanspruchen konnten, ausgestoßen werden mußte. Die würdigen Herren vom Orchesterverein waren derselben Meinung. Die Jahrbücher der Geschichte wußten nichts von einem ähnlichen Ereignis. Milde Augen blitzten, graue Bärte bebten. Die Beratung war kurz, der Spruch gerecht. Ein Vorstandsmitglied erschien als Sendbote vor Daniel und teilte ihm mit, daß man sich entschlossen habe, seine Kompositionen vom Programm zu entfernen. Die Nachricht verbreitete sich rasch.
Wer war seliger als Jason Philipp Schimmelweis?
Er glich einem Menschen, der gesättigt von einem Tisch aufsteht, an welchem zu hungern er lebhaft hatte fürchten müssen. Auf dem Heimweg pfiff er und lachte er in angemessenen Pausen.
»Da sieht man's,« sagte er zu seiner schweigend neben ihm herschreitenden Tochter, »da sieht man's wieder: aus Unrat kann kein Rat werden und aus Nothafft kein Glückhafft. Esel bleibt Esel, Lüderjahn bleibt Lüderjahn und Faulenzerei endet mit Schimpf und Schande. Der Teufel hat eben doch einen kurzen Fangstrick; ist die Lotterwirtschaft auch noch so dicke, seine Rekruten müssen Order parieren. Das wird ein Fressen für Muttern. Das wollen wir ihr mal brühwarm bestellen.«
Und Philippine, so wie sie den ganzen Abend hindurch nicht den Blick vom Erdboden erhoben hatte, schien auch jetzt nicht zu wissen, daß ringsum Häuser und Menschen waren. Sie war eine Geschlagene; sie wollte es sein. Sie hatte viel zu verbergen, ihre junge Brust war eine Hölle, aber ihr häßliches, mürrisches und altes Gesicht war tot und leer wie ein Stein.
Herr Carovius wartete am Tor. Erst als alle andern Leute sich verlaufen hatten, kamen Daniel, Benda, Wurzelmann und Lenore. Daniels Radmantel flatterte im Wind, den Hut hatte er tief in die Stirn gedrückt. Herr Carovius vertrat ihm den Weg.
»Ein Heldenstreich, mein lieber Nothafft!« gilfte er. »Umarmen müßte man Sie. Von heute ab können Sie auf mich zählen. Na, stehen Sie mal still, Sie menschgewordener Orkan. Freilich, was dero Musik anlangt, da geh ich nicht mit, da steckt mir zu viel Schnettereteng drin und zu wenig Infernalisches. Aber machen Sie nur den Döderleins den Garaus und ich bin Ihr Mann. Nicht als ob ich Sie einladen wollte, mich anzupumpen, beileibe nicht; bin selber nur ein armer Musikant; aber sonst steh ich in allem zu Diensten. Geruhsame Nacht allerseits und gewöhnen Sie sich das Schnettereteng ab.«
Er kicherte und lief davon. Daniel sah ihm etwas bestürzt nach. Wurzelmann lachte und meinte, so einen Kauz habe er noch nie gesehen. Alle vier standen eine bängliche Weile, und es fiel Schnee, mit Regen untermischt. Von Benda gefragt, wohin er gehen wolle, antwortete Daniel, er wolle nach Hause. Was er denn allein zu Hause wolle? das sei nichts heute, er möge mit ihm kommen. Nein, erwiderte Daniel, er läge heut jedem auf der Brust, sei sich selber im Weg. »Wie ist's, Knechtlein?« wandte er sich an Wurzelmann, »wollen wir kneipen?«
Wurzelmann erklärte verlegen, daß er nicht frei sei, und es war etwas Widriges in der Art, wie er sich ausredete.
»Ach, Sie mit Ihren albernen Weibergeschichten!« sagte Daniel verdrießlich; »aber es ist mir egal, wohin Sie gehn, ich geh einfach mit.«
»Das werden Sie nicht tun, Daniel!« rief Lenore. Und als Daniel sie erstaunt ansah, fuhr sie errötend fort: »mit zu seinen Weibern gehen . . .«
Die drei jungen Leute lachten und in ihrer Verwirrung lachte Lenore mit.
»Wie tragisch Sie sind, kleine Lenore,« spottete Daniel; »was verlangen Sie denn? Denken Sie, das geht so bei mir: die Träne quillt, die Erde hat mich wieder?«
»Lassen Sie ihn,« flüsterte Benda dem Mädchen zu, »er hat recht. Nur kein künstliches Licht in diese Finsternis. Sie dient ihm, und er muß damit fertig werden.«
Lenore schaute Benda groß an. »Finsternis? wieso denn? Da war ja das Feuer nur ein Irrwisch gewesen,« sagte sie, und ihre Augen strahlten stolz, »ich seh ihn voller Licht.«
Daniel hatte ihre Worte vernommen. »Wirklich, Lenore?« fragte er mit Gier.
Sie nickte. »Wirklich, Daniel.«
»Dafür dürfen Sie sich was von mir ausbitten.«
»Dann bitt' ich, daß Sie und Benda mit zu uns kommen. Der Vater wird sich freuen, und was zu essen gibt's auch.«
»Schön, das läßt sich hören. Addio, Wurzelmann. Einen Gruß an die Damen. Du gehst doch mit, Friedrich?«
Benda machte erst noch einige artige Umstände, bevor er sich bereit erklärte.
»Es hat Ihnen also gefallen, Lenore?« fragte Daniel, während sie die Straße hinuntergingen.
Lenore schwieg. Dieses Schweigen hatte plötzlich, er wußte kaum warum, etwas Ergreifendes für Daniel. Aber er vergaß den Eindruck schnell, den es geübt. Und es dauerte lange Zeit, es dauerte Jahre, bis er sich wieder daran erinnerte.