Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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12

Es war ein sonniger Septembertag. Eberhard, der den ganzen August in Erfft verbracht hatte, war zurückgekehrt, um einige dringende Geschäfte zu erledigen, sowie die Anstalten zur bevorstehenden Hochzeit zu beschleunigen.

Um die Stunde, wo die Gassen voll von spielenden Kindern waren, schritt er versonnen den Burgberg hinan. Er wollte sein Häuschen aufsuchen, das er seit Monaten nicht betreten hatte, es verlangte ihn nach der Stille dort, der tiefen Stille, nach einem Blick in die Vergangenheit, nach einem der schattenhaften Bilder seiner selbst, die er in allen Zeiten wandeln sah, in allen Räumen, wo er gewesen, auf vielen Wegen, wo er gegangen, auf den vergilbten Seiten von Büchern sogar, die er in der Einsamkeit zu Gefährten gehabt.

Er zögerte häufig, blieb stehen, schien unschlüssig. Auf einmal kehrte er um und wandte sich mit ziemlich raschen Schritten gegen den Egydienplatz. Als er die Tenne von Daniels Wohnhaus betrat, kam dieser die Treppe herunter. Daniel begrüßte Eberhard und reichte ihm die Hand.

»Ich wollte Sie gerade abholen,« sagte der Freiherr, »wollte Sie bitten, mit mir in meine Eremitage zu gehen.«

Daniel schaute durch seine Brillengläser einer Schwalbe nach, die in fabelhaftem Schwung über die ganze Weite des Platzes schnellte. »Offengestanden, Baron, zum Schwatzen fehlt mir die Lust,« antwortete er so schonend, wie es ihm möglich war, zu sein.

»Es muß nicht geschwatzt werden,« sagte Eberhard. »Mich drückt ein Geheimnis, und ich kann es Ihnen mitteilen, ohne daß wir zu reden brauchen.«

Daniel ging mit.

In dem Häuschen herrschte eine muffige Luft. Eberhard machte aber die Fenster nicht auf; es sollte so still bleiben, wie es war. Daniel setzte sich auf einen der Stühle in der ehemaligen Wohnstube des Freiherrn, Eberhard meinte, er setze sich aus Müdigkeit und nahm gegenüber seinem Gaste Platz. Die Abendsonne fiel schräg auf einen alten Stahlstich, der eine Schäferszene darstellte; eine Maus rumorte in einer Ecke.

»Was ist es also mit dem Geheimnis?« fragte Daniel nach langem Schweigen ziemlich brüsk.

Eberhard erhob sich und machte eine Gebärde, die Daniel aufforderte ihm zu folgen. Sie schritten über den schmalen Gang, eine winzige Treppe hinauf, und oben, auf dem winzigen Stiegenabsatz, öffnete Eberhard eine Tür, die in die Dachkammer des Häuschens führte.

Ein betäubender Modergeruch schlug ihnen entgegen. Daniel kehrte sich unwillkürlich ab, der Freiherr jedoch deutete stumm auf die Wände.

»Was ist das? Was für ein Raum ist das?« stieß Daniel hervor.

Alle vier Wände des Raumes waren vollständig von Sträußen, Girlanden und Kränzen verwelkter Blumen bekleidet. Von den meisten Blumen waren längst die Blütenblätter abgefallen und bedeckten ringsherum den Boden. Die grün gewesenen Blätter waren braun geworden, hingen zusammengekrümmt da, die Gräser waren zerfasert, die Zweige morsch. Manche Sträuße und Gewinde hatten Bänder, deren Rot oder Blau abgeblaßt war, manche hatten Goldfäden, an denen sich Rost angesetzt hatte. Auf manche fiel die schräge Sonne, wie unten auf den Stahlstich mit der Schäferszene, und in den purpurnen Strahlen zitterte ein dicker Strom von Staub.

Es war ein Blumengrab-Gewölbe, eine Leichenkammer der Erinnerungen. Daniel ahnte. Schwer lag ihm die Zunge im Gaumen, Frost überlief seinen Rücken, und als Eberhard nun doch sprach, wälzte es sich glühendheiß und naß in seine Augen.

»Die Blumen sind von ihren Händen gepflückt und gebunden worden, von Lenores Händen,« sagte Eberhard. Dann, nach einer Pause: »Sie hat die Sträuße für einen Händler angefertigt, und ich habe sie, ohne daß sie es wußte, gekauft.« Dann sagte er nichts mehr.

Da schaute Daniel in sein Leben zurück, als risse ihn ein unsichtbarer Arm auf einen Gipfel. Und er schaute, und seine Seele verging vor Angst und Qual und Reue.

Was war ihm denn geblieben? Zwei Gräber waren geblieben. Und eine zerbrochene Harfe; und verwelkte Blumen; und eine Maske aus Gips.

Er sah die abgestorbenen Stengel und die zerfallenen Kelche; einst hatten Lenores Finger sie alle berührt, und wie Geisterfiguren schwebten die Finger noch um die toten Blumen. In den staubigen Spinnengeweben nisteten die ungenutzten Stunden, versäumte gute Worte, versäumter Trost, versäumte Aufmunterung, versäumte Rücksicht, versäumtes Glück. O, dies Nichtwissen um eine Gegenwart, um ein lebendiges Leben, um den wunderbaren Tag, die atmende Stunde, dies Hinschlurfen, Hinstürzen, Hinwüten in die Nacht des Wunschs und Wahns, dies eitle, verbrecherisch eitle Ungenügen! O, Flügelwesen, Flügelwesen, wo bist du, wo ruft man dich an?

Nichts geblieben als zwei Gräber, eine zerbrochene Harfe und verwelkte Blumen und eine Maske. Und ein helles Kind dort und ein dunkles hier, und ein drittes, das ins Leben getreten war, um zu sterben. Und über alldem, hoch über dem Gipfel noch, das Ungeheure, Unausdrückbare, das Meer der Träume, erträumten Klänge, Odem Gottes und höllischer Finsternis Verkündigung, Botschaft der Ewigkeit und Wunder der Zeitlichkeit, Tanz und Schalmei, Donnerschall und süßes Weben, Musik!

Es war Abend geworden. Der Freiherr schloß die Tür. Daniel reichte ihm schweigend die Hand und ging nach Hause.


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