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Alle Anstrengung, Daniel zum Reden zu bringen, war vergeblich, und gegen Mitternacht verabschiedete sich Benda. Agnes sperrte ihm das Tor auf, und er sagte zu ihr: »Sorg du für ihn, er hat niemand jetzt.«
Die Hände hinter dem Haupt verschränkt, lag Daniel auf dem Kanapee und stierte gegen die Decke. Seine Augen waren heiß, manchmal überlief ihn ein Zittern.
»Ungemütlich ist's hier,« sagte das Gänsemännchen, »die Luft ist noch voll Rauchgestank, und von der finstern Stube dorten zieht's herein.«
Daniel erhob sich, machte die Tür zu und legte sich wieder hin.
Das metallische Äußere des Gänsemännchens schien biegsam zu werden, ungefähr wie wenn ein hartgefrorener Körper auftaut. »Viel hast du erlebt,« fuhr es nachdenklich fort. »Daß einer, der schaffen will, auch erleben muß, ist klar; da ist seine Muttermilch, da ist sein Wurzelreich, da schießen die Säfte zusammen, aus denen ihm Formen und Gestalten werden. Aber erleben und erleben, das ist zweierlei.«
»Überflüssiger Tiefsinn,« murmelte Daniel ärgerlich, »Leben heißt erleben.« Er ging mit sich zu Rate, wie er sich von dem lästigen Schwätzer befreien könnte.
Das Gänsemännchen ließ wieder sein leises Lachen hören. Es antwortete: »Viele leben und leben doch nicht, leiden und leiden doch nicht. Worin besteht Menschenschuld? Im Nichtfühlen, im Nichttun. Man muß da erst einen ganz bestimmten und ganz falschen Begriff von Größe beseitigen. Was ist denn Größe? Nichts weiter als die Erfüllung einer unendlichen Reihe kleiner Pflichten.«
»Es ist ein Unterschied zwischen dem Schöpfer und allen andern Menschen,« gab Daniel zurück, den dieses Gespräch aufregte und peinigte.
»Berufst du dich nun auf die Musik?« fragte das Gänsemännchen, und sein gutmütiger Blick wurde spöttisch.
»In der Musik ist jede Hervorbringung strenger an ein Unbedingtes und Äußerstes gebunden als in allem, was der Mensch sonst dem Menschen gibt,« antwortete Daniel. »Der Musikergenius steht Gott am nächsten.«
Das Gänsemännchen nickte. »Aber sein Sturz beginnt einen Schritt von Gottes Thron und ist tief. Weißt du, was du bist? weißt du endlich, was du nicht bist?«
Daniel drückte die Hand auf die Brust. »Hab ich mich um vergänglichen Lorbeer gebalgt? Hab ich das unmündige Volk mit Surrogaten abgespeist oder den Himmelsflug durch Veitstänze nachgeahmt? Hab ich nicht nach meinem innersten Wissen und Gewissen gehandelt? War ich ein Lügner?«
»Nein, nein, nein,« beruhigte das Gänsemännchen, nahm sein Mützchen ab und legte es auf seine Knie. »Du warst in deiner Sache; gar kein Zweifel, du warst in deiner Sache. Alles Leben ist in deine Seele geströmt, und du hast im elfenbeinernen Turm gewohnt. Wohlverwahrt war deine Seele, von Anfang an wohlverwahrt. Wie wenn ein Schwimmer sich mit Fett einreibt, bevor er sich ins Wasser stürzt. Du hast gelitten; das Gift des Nessushemds, das du getragen, hat deine Haut verbrannt, und der Schmerz hat sich in süßen Klang verwandelt. So sind sie, die Schöpfer, unverletzlich und unnahbar, so denkst du sie, nicht wahr? Unmenschen, die das Kreuz der Welt auf sich nehmen und doch im Schmerz über ihr eigenes Schicksal hinüberwachsen. So bist du, so siehst du aus, heute, in deinem zweiundvierzigsten Jahr.«
Der Ton von Bitterkeit traf Daniel unerwartet, und er drehte das Gesicht gegen die Richtung, wo das Gänsemännchen saß. »Ich versteh dich nicht,« sagte er langsam. Von der Hofkammer her erschallte das jämmerliche Weinen des kleinen Gottfried und dann Agnes' beschwichtigender Singsang.
»Hättest du doch lieber nicht im elfenbeinernen Turm gewohnt!« rief das Gänsemännchen aus. »Wärst du empfindlicher gewesen und weniger wohlverwahrt! Hättest du doch gelebt, gelebt, gelebt, ganz wahr und ganz nah wie ein Nackender im Dornendickicht! Dann hätt es dich niedergetreten, aber deine Liebe wäre wirklich gewesen, der Haß, den du erfahren, wirklich, das Unglück wirklich, die Lüge wirklich, Spott und Verrat wirklich, und noch die Schatten deiner Toten hätten Wirklichkeit gehabt. Und das Gift des Nessushemds hätte nicht bloß deine Haut verbrannt, es wäre dir ins Blut gedrungen, bis in die stillste, heiligste Tiefe deines Herzens, da wäre dein Werk nicht im Ringen gegen deine Finsternis und beschränkte Qual gewachsen, unfrei vor den Menschen, ungesegnet von Gott. Bilde dir nur nicht ein, daß du das Leiden der Welt getragen hast, dein eigenes hast du getragen, liebend-lieblos, selbstlos-selbstsüchtig, Unmensch, der du warst, Unbürger.«
»Wer bist du? was nimmst du dir heraus?« kam es stockend von Daniels blassen Lippen.
»Ei, siehst du denn nicht, wer ich bin? Das Gänsemännchen bin ich,« war die mit treuherzigem Bückling gegebene Antwort. »Das Gänsemännchen, einsam hinterm Gitter, einsam auf der Wasserschale, aber mitten auf den Markt hingestellt. Ein unbedeutendes Wesen, faßbar jedem, der vorübergeht, obwohl man mir eine Art von Monumentalität zugedacht hat. Doch ich mache mir nichts aus der Monumentalität, ich pfeife drauf. Ich verleihe dem Markt, auf dem die Bürger um Äpfel und Kartoffel feilschen, ein bißchen Würde, das ist alles. Sie sehen mich immer aufrecht unter dem Himmel stehen, und trotz meiner ausgezeichneten Position haben sie mich stets wie einen Vetter betrachtet. Eine Zeitlang haben sie dir meinen Namen angehängt, aber ganz mit Unrecht, scheint mir, ganz mit Unrecht. Ich hab meine Gänse treu gehütet, da kann mir keiner was nachsagen.«
Das Gänsemännchen lachte harmlos und glücklich, und als Daniel den Blick wieder gegen den Erker wandte, war der Stuhl leer, der seltsame Gast verschwunden.