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Als Gertrud vom Wochenbett aufgestanden war, folgte Lenore einer Einladung Martha Rübsams und begleitete die Freundin nach Altdorf, zu ihrer Tante Seelenfromm. Der Aufenthalt sollte vierzehn Tage dauern, und Lenore betrachtete dies als eine Probe, ob sie sich selber noch etwas sein könne, sich allein, ohne Daniel.
Aber sie sah, daß sie ohne ihn nicht mehr zu leben vermochte. In dem einsamen Forsthaus kam sie zu der Erkenntnis, daß ihre Liebe groß genug war, um das Ungeheure des ihr auferlegten Schicksals tragen zu können, daß weder Flucht, noch Sichverbergen imstande war, sie zu retten, Daniel zu heilen und Gertrud das Verlorene zu ersetzen.
Freilich gab es Stunden, wo sie sich fragte, ob es denn wahr und wirklich, ob es überhaupt möglich sei. Sie wandelte in der Schwärze, von Dämonen umringt; ihre Natur war in die tiefste und seltenste Verwirrung gestürzt und wehrte sich mit leidvollen Gebärden gegen das Unerbittliche.
Doch in einer ihrer schlaflosen Nächte schien es ihr, als überflamme sie Daniels Geist und als rufe seine Stimme nach ihr mit niegekannter Macht.
So wie er lebendig war, war's keiner, den sie je gesehen. Ihre schlummernde Phantasie war aufgewacht unter seinem Laut und Atem. Sie fand, daß ihm die Menschen vieles schuldig seien und daß, da sich niemand anheischig machte, diese Schuld zu zahlen, es an ihr liege, das Versäumnis nachzuholen.
Die Wege seiner Kunst überblickte sie nicht. Der Musiker in ihm sagte ihr nichts Sonderbares und Besonderes. Sie faßte und fühlte nur ihn selbst. Faßte und fühlte nur den Mann, der zu Hohem und Höchstem geboren und entschlossen war und über das Schlechte und Niedrige schweigend hinwegschritt; der sich erwählt wußte und auf Herrschaft verzichten sollte; der stumm erglüht in Waffen stand, um ein stets bedrohtes Heiligtum zu hüten.
Von einem solchen Mann, einem Ritter und einem Kämpfer, hatte sie schon in Kindertagen fromm geträumt. Denn wie wohl sie alle Dinge und Verhältnisse mit Blicken der Wahrheit ergriff, war doch ihre Seele voll heimlicher Schwärmerei gewesen. Hinter lieblich sich bewährender Tätigkeit webten Genien der Romantik ihre bunten Fäden und hatten auch die gläserne Kugel gebaut, in der sie sich so lange vor der Welt verborgen hatte.
Am Morgen nach jener Nacht erklärte sie ihrer Freundin, daß sie heimfahren wolle. Martha versuchte, sie davon abzubringen, aber sie blieb beharrlich. War sie doch vor Sehnsucht beinahe krank.
Martha ließ sie ziehen; sie hatte die traurigsten Gedanken über Lenores Zukunft, da ihr ja zu Ohren gedrungen war, was in dem unglücklichen Hause vor sich ging. Nicht aus Gründen der Moral sorgte sie sich, dazu war sie nicht die Frau; sondern aus echter Zuneigung. Es tat ihr weh, Lenore nicht mehr bewundern zu können.