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Manchmal dachte sie, sie könne einfach hingehen und bei ihm bleiben. Manchmal schien es ihr, als werde er kommen und sie mitnehmen. Eines oder das andere mußte geschehen, so dachte sie.
An einem Sonntagabend, es war gerade der Tag, an dem sie achtzehn Jahre alt geworden, kam ein Unteragent Jason Philipps, ein Mensch namens Pfefferkorn, in die Wohnstube und erzählte beiläufig, daß die ältere der Jordanschen Töchter seit langer Zeit mit dem Musikus Nothafft verlobt sei, daß dieses Verlöbnis geheim gehalten worden sei, daß aber nun die Hochzeit unmittelbar bevorstehe.
»Wie ich höre, ist ja der Musikus Ihr Neffe,« schloß Pfefferkorn seinen Bericht.
Jason Philipp starrte finster vor sich hin, Therese, die ihren Zichorienkaffee schlürfte, stellte die Tasse auf den Tisch und musterte ihren Mann mit geringschätzigem Blick.
Da brach Philippine in ein Gelächter aus, das allen durch Mark und Bein ging. Sie rannte aus dem Zimmer und schlug die Türe krachend hinter sich zu. »Die ist wohl nicht bei Trost,« murmelte Jason Philipp wütend. ^
Es kam dann jene Julinacht, in der sie ganz vom Hause fortblieb. Jason Philipp wetterte und brüllte, als sie am andern Morgen zurückkehrte, aber sie blieb stumm. Er sperrte sie sechzehn Stunden lang in den Keller; sie blieb stumm.
Hierauf verließ sie monatelang das Haus nicht mehr; wusch und frisierte sich nicht mehr; hockte in der Küche und die versträhnten Haare hingen wüst über Nacken und Schultern.
Eine verzehrende Rachgier tobte in ihrer Brust, und die Geduld, die sie wider Willen üben mußte, erstarrte nach und nach zur Miene heuchlerischen Stumpfsinns.
Plötzlich fing sie wieder an, sich zu schmücken und schlenderte an Nachmittagen durch die Straßen. Ihre geschmacklos grellen Bänder erregten Spott bei jung und alt.
Sie hatte auskundschaftet, daß Lenore Jordan häufig die Vorträge im Kulturverein besuchte. Sie ging gleichfalls dorthin, drängte sich immer dicht an Lenore heran, aber deren Aufmerksamkeit zu erregen wollte ihr lange nicht gelingen. Einmal saß sie neben Lenore; ein Wanderprediger hielt eine Rede über Leichenverbrennung. Philippine zog ihr Taschentuch und drückte es an die Augen, als ob sie weine. Betroffen wandte sich Lenore zu ihr und fragte, was ihr fehle. Es sei halt gar so traurig, was der alte Herr dort oben vorbringe, antwortete Philippine. Lenore verwunderte sich, da in den Ausführungen des Redners nichts enthalten war, was traurig genannt werden oder irgendeinem Menschen Tränen entlocken konnte.
Nachher ging sie mit Philippine zusammen weg, und als ihr das häßliche Geschöpf sein Elend schilderte, wie sie von den Eltern und Brüdern Mißhandlungen erleiden müsse und niemand auf der Welt habe, der sich um sie kümmere, wurde Lenore von diesen Klagen bewegt; der Umstand, daß Philippine Daniels leibliche Base war, beschwichtigte ihren Widerwillen und sie versprach ihr, sie bisweilen zu einem Spaziergang abzuholen.
Sie hielt ihr Versprechen. Sie achtete nicht auf das Kopfschütteln der ihnen Begegnenden, wenn sie mit der vierschrötigen, marktschreierisch aufgetakelten jungen Dame in den Anlagen am Stadtgraben wandelte. Aber später zog sie es doch vor, die Promenaden, die zwei oder dreimal jeden Monat stattfanden, in die Abendstunden zu verlegen.
Philippine wünschte es selbst. Sie deutete an, daß zwischen den Familien Nothafft und Schimmelweis eine geheimnisvolle Feindschaft herrsche und beschwor Lenore, sie möge Daniel den Verkehr mit ihr verschweigen. Es war Lenore peinlich, dies von Philippine immer von neuem gefordert zu hören. Die lauernde Art, mit der Philippine das Gespräch auf Daniel und Gertrud zu bringen suchte, hatte etwas Zudringliches; sie wollte bald dies bald jenes wissen, fragte unverschämt nach Gertruds Mitgift und verlangte schließlich, Lenore solle ihre Schwester einmal mitbringen.
Da verspürte Lenore ein heftiges Grauen vor dem Mädchen, und Bestürzung erfaßte sie, als sie trotz der Dunkelheit die megärenhafte Bosheit in Philippinen Gesicht bemerkte. Eine unüberhörbare Stimme warnte sie; soweit sie es ohne beleidigende Abwehr zu tun vermochte, entzog sie sich dem Umgang wieder. Hätte sie auch nicht Verschwiegenheit zugesagt, ein Gefühl, halb Furcht, halb Scham, hätte sie gehindert, vor Daniel den Namen Philippines zu nennen.
Sie ahnte nicht, daß sich Philippine im verborgenen an ihre Fersen heftete. Philippine kannte alsbald die Stunden, in denen sich Daniel und Lenore zu treffen pflegten, und folgte ihnen in bemessenem Abstand auf allen ihren Wegen. Warum sie dies tat, wußte sie kaum; es zwang sie dazu.
Und was sie bei Lenore erreicht hatte, wollte sie auch bei Gertrud erreichen. Im Metzgerladen, auf dem Buttermarkt, bei der Gemüsehändlerin, tauchte sie auf einmal auf, starrte Gertrud frech ins Gesicht, gab sich eine alberne Wichtigkeit und sagte etwa: »Gottich, Gottich, wie teuer sind heuer die Bohnen;« oder: »ein kaltes Lüftla weht, da kann man das Reißen kriegen.« Aber Gertrud war viel zu weltverloren und viel zu empfindlich gegen fremde Berührung, um so plumpe Annäherungsversuche zu beachten.
Warte nur, dachte dann Philippine ergrimmt, dein Hochmut wird dir noch heimgezahlt.