Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wochenlang hatte Daniel in Berlin einsam gelebt, weit draußen, im Osten der riesigen Stadt. Da kam einer der Leiter des Hauses Philander und Söhne zu ihm. Er besuchte den Mann wiederum, und im Verlauf von zwei Stunden wurde er gegen seinen Willen mit einem ganzen Schwarm von Komponisten, Dirigenten, Virtuosen und Musikkritikern bekannt.
Einige hatten von ihm gehört, er erschien ihnen merkwürdig, sie warfen ihre Netze nach ihm aus, er entschlüpfte, mußte sich bei unvermuteten Begegnungen dennoch fangen lassen, mußte Rede stehen, sich enthüllen, fand sich verpflichtet, interessiert, aber keiner hatte Gewalt über ihn, er ging nur zwischen ihnen durch.
Sie lachten über seine Mundart und seine Unmanierlichkeit. Was sie anzog, war sein Selbstrespekt, was sie reizte, war sein verschlossenes Wesen, was sie originell fanden, war, daß er immer wieder für Monate aus ihrem Gesichtskreis schwand.
Eine geschiedene junge Frau, eine Jüdin, Regina Sußmann mit Namen, faßte eine Schwärmerei für ihn. Sie erkannte in Daniel die elementare Natur; je mehr er ihr auswich, je hartnäckiger warb sie um seine Beachtung. Manchmal tat es ihm wohl, wieder eine Frau zu spüren, den helleren Laut, den zarteren Schritt, den reineren Atem, doch glaubte er nicht an Regina Sußmann, weil sie ihm zu wissend schien. Da war nichts von jener Pflanzenart, ohne die ihm eine Frau bildlos und verwildert vorkam.
An einem Wintertag besuchte sie ihn in dem öden Mietszimmer, das er in der Greifswalder Straße bewohnte. Sie setzte sich an das Pianino und phantasierte vor sich hin. Zuerst war es wie Dunst; plötzlich lauschte er betroffen. Was er hörte, klang ihm auf eine halb unbehagliche, halb schmerzliche Weise vertraut. Es waren Motive aus dem Quartett, dem Lenoren-Quartett, wie er es für sich benannt hatte. Es stellte sich heraus, daß Regina Sußmann vor drei Jahren bei der Aufführung in Leipzig gewesen war.
Nach einer lastenden Stille griff eine Frage Reginas kühn in sein Inneres. Sie wollte Fäden vom Werk zum Menschen knüpfen; sie wollte von seinem unbekannten Schicksal den Schleier reißen. Er stieß sie zurück. Danach tat sie ihm leid, und zögernd fing er an, von seiner Symphonie zu sprechen. Die leidenschaftlich-stumme Teilnahme der Frau hatte etwas Verzauberndes; er verlor sich, er vergaß sich, er eröffnete sich. Er baute das Werk in Worten vor ihr auf, die sieben Sätze gleich sieben Treppen eines Tempelturms, ein herrliches Empor in die oberen Sphären, ein tragischer Sturm mit tragisch heitern Pausen der Erinnerung und Besinnung, von lächelnden Genien begleitet, welche die Pfeiler der Traumregion schmückten und bekränzten.
Dann begab er sich ans Klavier, schlug das wehvolle Hauptmotiv an und die beiden Seitenthemen, kontrapunktierte sie, steigerte, variierte, modulierte und sang zugleich. Seine Pupillen hatten sich erweitert und loderten hinter den Gläsern der Brille in grünem Feuer. Da kniete Regina Sußmann neben dem Instrument nieder. Vielleicht zwang sie die Ergriffenheit, dies zu tun, vielleicht wollte sie ihm einen sichtbaren Beweis ihrer Andacht und Verehrung geben. Da wurde ihm die Frau plötzlich widerwärtig, das gelöste Schmachten ihrer Augen erregte seinen Ekel, ihre kniende Stellung dünkte ihm wie Spott und Grimasse, eine Erinnerung war entweiht, er sprang auf, eilte wortlos, mit zornig verkniffenen Lippen hinweg und ließ sie, in seinem Zimmer, allein zurück. Als er spät in der Nacht heimkehrte, fürchtete er, sie noch zu treffen, aber sie war nicht mehr da. Nur ein Brief lag neben der Lampe auf dem Tisch.
Sie schrieb, daß sie ihn verstanden habe; sie habe verstanden, daß er in seiner Vergangenheit wie in einer Festung wohne, und daß Schatten um ihn seien, die durch keine Anmaßung eines Lebendigen verscheucht werden dürften. Sie wolle sich nicht in sein Inneres drängen, doch habe sie Angst um seine Zukunft und wie er den Hunger des Leibes, den Hunger des Herzens einst niederkämpfen würde.
»Schamlose,« murmelte Daniel, »Spionin!«
Sie habe seine Größe erkannt, hieß es in fast perverser Demut weiter, er sei der Genius, dem sie entgegengeharrt, und sie wünsche sonst nichts, als ihm zu dienen. In der Ferne, da er ihre Nähe nicht ertragen wolle; er möge es sich um seinet- und der Menschheit willen gefallen lassen.
Daniel verbrannte den Brief. In der Nacht wachte er auf und hatte Sehnsucht nach der zärtlichen Berührung einer Unberührten. Er träumte ein Lächeln auf dem Antlitz einer Siebzehnjährigen, arglos Spielenden, und es schauderte ihm vor sich selbst.
Kurze Zeit hernach fuhr er nach Dresden, wo er in der Königlichen Bibliothek zu arbeiten hatte.
Es kamen Menschen zu ihm, die für ihn wirken wollten. An vielen Zeichen merkte er, daß Regina Sußmann glühende Propaganda für ihn trieb.
Eines Tages erhielt er von einer Gesellschaft von Musikfreunden in Magdeburg die Aufforderung, dort ein Konzert zu leiten. Er schwankte lange, endlich willigte er ein. Äußerlich hatte der Abend nur geringen Erfolg, doch spürten die Hörer seine Macht. Stümpernde Musikanten, sich vergessend, wurden zu beseelten Sklaven seines Arms und Blicks. Ein ungewisses Glück, das er in den Guten weckte, rief ihn weiter auf der Bahn. Zwei Winter lang dirigierte er klassische Konzerte in den Provinzstädten des Nordens. Er war der erste, der damit begann, das Publikum an strenge Programme zu gewöhnen. Der erste erntet selten Dank. Hätte er sich nicht so puritanisch der Darbietung von Süßigkeiten enthalten, von Opernnummern und beliebten Tongemälden, sein Wirken hätte sich besser gelohnt. Er wurde mit Achtung genannt, dennoch ging er dunkel durch die Städte.
Regina Sußmann war immer dort, wo er ein Konzert gab. Er wußte es, auch wenn er sie nicht sah. Bisweilen gewahrte er sie in der vordersten Reihe. Sie näherte sich ihm niemals. Dann und wann erschienen begeisterte Artikel in den Zeitungen, die erkennbar von ihr beeinflußt waren. Einmal begegnete er ihr auf der Treppe eines Hotels. Sie blieb stehen, bleich mit gesenkten Augen. Er ging vorüber. Da flammte wieder die Sehnsucht auf nach der zärtlichen Berührung einer Unberührten. Hungerte wirklich schon sein Herz? Er biß die Zähne zusammen und arbeitete die ganze Nacht hindurch. Es schien ihm, als bedrohe ihn die düstere Nüchternheit seiner Zeit und seiner Welt schrecklich. Aber bedurfte es, um sie abzuwenden, eines Weibes? Die Schatten wichen trauernd zurück, Gertrud und Lenore, schwesterlich umschlungen.
Laß ab von deinem Tun! riefen sie. Und er sah, daß ihn die provinzlichen Konzertreisen zu falschen Zielen lockten, falschen Ehrgeiz entfachten, seine Kräfte zerteilten. Auch ertrug er die blendend hellen Säle nicht mehr, die geputzten Menschen, die leer kamen, unverwandelt gingen. Es war alles wie Lüge. Da ließ er ab, gerade als die Verführung am stärksten war, als ihn die Berliner Philharmonie eingeladen hatte, in ihren Räumen seine eigenen Schöpfungen zu dirigieren.
Plötzlich war er verschollen. Ehe drei Monate vergingen, war sein Name zur Sage geworden.