Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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3

Sieben Jahre lang bin ich fort gewesen,« sagte Daniel, als sie durch das Tor schritten. Alles erschien ihm lächerlich klein, das Rathaus, die Kirche, der Platz und der Wolframsbrunnen. Auch hatte er sich die Straßen reinlicher und die Häuser wohlhabender aussehend gedacht. Als er über die drei wie Muscheln ausgebogenen Stufen am Tor hinaufstieg und in den Kramladen mit seinen Würzgerüchen trat, schwand die vergangene Zeit zu einem Nichts.

Marianne konnte vor Freude kein Wort sprechen. Sie reichte Daniel die eine, Lenore die andere Hand. Ihre erste Frage war nach Gertrud.

Aber da saß in der Stube ein vierjähriges Kind mit reichem Blondhaar und märchenhaft blauen Augen. Das Gesichtchen war von zartester Schönheit, der Körper von zartestem Bau.

»Wer ist das Kind? Wem gehört es?« fragte Daniel.

»Es ist dein eigenes Kind, Daniel,« antwortete seine Mutter.

»Mein eigenes Kind? Ja um Gott –!« Errötend und erblassend schaute er von der Mutter zu Lenore.

»Dein Fleisch und Blut. Gedenkst du an Meta nicht mehr?«

»An Meta . . . Also das. Und ihr, ihr habt's genommen? Und du, Lenore, hast darum gewußt? Und du, Mutter, hast's genommen?« Er setzte sich an den Tisch und verbarg sein Gesicht. »Das also war drin in dem Extratopf,« murmelte er scheu vor sich hin; »es heißt wohl am Ende gar Eva . . .?«

»Ja, Eva heißt es,« flüsterte Lenore bewegt. »Geh hin zu deinem Vater, Eva, und gib ihm die Hand.«

Das Kind tat, wie ihm befohlen worden. Dann erzählte Marianne ihrem Sohn, daß Lenore es gewesen, die die Magd nach Eschenbach gebracht und daß Meta später geheiratet habe und mit ihrem Mann nach Amerika gegangen sei.

Jeder Blick und jede Miene Mariannes verriet, mit wie großer Liebe sie an dem Kind hing und daß sie es wie ihren Augapfel hütete.

Der Ring des wunderbaren Geschehens umschnürte Daniels Herz. Wo Verantwortung lag und wo Schuld, wo der Wille endete und die Fügung begann, konnte er nicht entscheiden. Dank zu äußern, war gemein; die innere Wallung zu verhehlen, schwer. Er schämte sich vor beiden Frauen; als er aber das lebendige Geschöpf anschaute, verlor die Scham ihren Sinn. Und wie hoch Lenore emporwuchs in seinen Augen, als tätiges wie als empfindendes Wesen schien sie ihm gleich verehrenswert. Beinah schauderte ihn davor, sie so nah zu wissen, und daß das, was sie getan, für ihn getan worden, erfüllte ihn mit Demut.

Am allerseltsamsten aber war die kleine Eva. Er wurde nicht satt, sie zu betrachten und staunte über das Spiel der Natur, die sich darin gefallen hatte, aus einer plumpen Magd ein Menschenbild von adeligster Prägung entstehen zu lassen. Es war etwas himmlisch Leichtes an dem Kind. Es hatte feine Hände, feine Gelenke und eine durchsichtige Stirn, deren bläuliches Geäder sich nach verschiedenen Richtungen verzweigte. Sein Lachen war die reinste Musik, und in Gang und Gebärden hatte es einen Rhythmus, der hohe Versprechungen auf künftige Freiheit und Anmut gab.

Daniel führte Lenore durch das Städtchen, dann vors Tor. Es war Jahrmarkt, und es herrschte großes Gedränge. Sie kehrten daher wieder in die stillen Gassen zurück und gingen schließlich in die Kirche. Der Meßner kam; er erkannte Daniel noch und sperrte ihm den Chor auf. Daniel setzte sich an die Orgel, der Meßner trat die Bälge, Lenore nahm auf einem Bänkchen an der Wand Platz.

Daniels Augen blickten fest, die Finger griffen mit Geistergewalt in die Tasten. Es waren zwei Motive, die in freien Quinten gegeneinander drängten, sich dann vereinigten und zu einem geworden, von den tiefen in die hohen Register zogen, von der Hölle durch die Welt zum Himmel. Ein Hymnus krönte das improvisierte Gebilde.

Lange stand er noch mit Lenore in der Stille. Unter der gewölbten Höhe atmeten die Gesänge weiter. Es dünkte beide, als fließe das Blut des einen in den Körper des andern hinüber. Früher Erlebtes schwand aus dem Gedächtnis, eine weite Reise schien hinter ihnen zu liegen, keine Stimme mahnte an die Rückkehr, sie waren von Pflicht und Angst erlöst.


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