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Herr Carovius und der Tod waren gute Freunde. So oft der Tod sein trauriges Geschäft zu verrichten hatte, klopfte er bei Herrn Carovius an, gleich als suche er neben denen, die sein Handwerk mißbilligten und verwünschten, auch einen, der es zu schätzen wußte.
Aber als Herr Carovius erfuhr, daß Lenore Nothafft gestorben sei, fand er, daß sein alter Freund diesmal des Guten zuviel getan habe. Der Fall ging ihm nah. Er hatte ein zusammenziehendes Gefühl in der Magengegend und sperrte sich für die Dauer eines ganzen Tages in seinem Gerichtszimmer ein. Dort verfiel er in eine Art von Katalepsie; sein Gesicht veränderte sich grauenhaft, wie wenn alle Bosheit, alle Hoffnungslosigkeit und alle Verzweiflung des durch Liebe nie entsühnten Menschen für alle Zeiten darin versteinert wären.
Die Vorahnung hatte sich erfüllt.
Es war ein regnerischer Junitag, als sie Lenore begruben, und Herr Carovius, in den schäbigen gelben Überzieher mit den großen Taschen gehüllt, war zugegen. Auch viele andere Menschen gaben Lenore das letzte Geleit. Jede Miene war ergriffen, jedes Auge aufgelockert wie die Erde ringsum. Die sie nicht gekannt, hatten doch von ihr gehört; sie hatten gewußt, daß sie dagewesen war, auf irgendeine Weise, wie man von Himmelserscheinungen hört, und wußten jetzt, daß sie fort war. Einen Augenblick lang wurden sie zu tiefen, schauenden, fühlenden Wesen, einen Augenblick lang entäußerten sie sich ihres nichtigen Tuns, ihrer kleinen Laster, Begierden, Sorgen und Eitelkeiten und wurden inne, daß es nun weniger Wahrheit, weniger Reinheit, weniger Lieblichkeit und weniger Liebe auf der Welt gab.
Herr Carovius ging nach Hause und kochte sich einen Lindenblütentee. Der half ihm oft gegen übles Befinden.
Das Regenwasser tropfte auf das Sims am Küchenfenster, und Herr Carovius sagte vor sich hin: »Das war die letzte Leiche; von nun an geh ich zu keiner mehr.«
Um die Abendzeit kam Dorothea, und gleich nach ihr erschien auch Philippine Schimmelweis. Herr Carovius hatte ihr manches Fünfzigpfennigstück zugesteckt für die Spionendienste, die sie ihm geleistet, und jetzt wollte sie erfahren, was er zu dem Unglück sagte. Sein verliebtes Interesse an allem, was die Person Lenores betraf, hatte sie heimlich belustigt, doch hatte sie sich wohl gehütet, ihn dies merken zu lassen, sondern hatte bei seinen Fragen, Aufträgen, Belehrungen und bittern Betrachtungen stets einen scheinheiligen Ernst gezeigt, hatte ihn aufgestachelt, ihm plump geschmeichelt und jede Gelegenheit benutzt, seine lächerlichen Hoffnungen zu nähren. Dadurch war eine wachsende Vertraulichkeit zwischen ihnen entstanden, und die greisenhafte Liebestollheit des Herrn Carovius hatte in Philippine niedrige und verworfene Lüste geweckt.
Sie sagte, sie müsse bald wieder heim; das Kind sei eingeschlafen, das Gatter habe sie zugesperrt, aber man wisse doch nicht, was geschehen könne; mein Gott, in einem solchen Haus geschehe gar viel, da sei es nicht wie in andern Bürgerhäusern.
Die Gegenwart Dorotheas störte und ärgerte sie. Sie setzte sich auf die Ofenbank und sah das junge Mädchen mit giftigen Blicken an. Dorothea ihrerseits konnte ihren Abscheu vor Philippines unbeschreiblicher Häßlichkeit kaum verhehlen. Ihr Mund zuckte, und sie ließ das mit krächzender Stimme redende, mit verbundenem Kopf dasitzende Geschöpf nicht aus den Augen.
Philippine hatte nämlich Zahnweh, und deshalb trug sie das Gesicht eingebunden. Das Tuch war abenteuerlich bunt gesprenkelt, und unter dem Hut ragten zwei Zipfel heraus.
Mit Selbstgefälligkeit und Gruselfreude erzählte sie, einen wie schweren Tod Lenore habe sterben müssen. Nun sitze der alte Jordan flennend in seiner Dachkammer, der Daniel esse nicht und trinke nicht und sehe einen mit Augen an, geradewegs zum Fürchten.
So weit habe er's nun gebracht, schmälte sie; zwei Frauen unter der Erde, ein hilfloses Kind im Haus, keine Arbeit, keinen Verdienst, was für ein Ende werde das nehmen? Die Kosten für die Beerdigung habe die Notarin Rübsam ausgelegt, der Daniel habe ja nicht einmal verstanden, was man zu ihm geredet, und der Alte habe keine zwanzig Mark im Vermögen gehabt. Sie werde das Elend nicht mehr lang mitansehen; wenn der Daniel die brotlose Musiziererei und Klimperei nicht bald an den Nagel hänge, werde sie wissen, wo der Zimmermann das Loch gemacht.
Gegen seine sonstige Gepflogenheit unterließ Herr Carovius alle Zeichen der Zustimmung. Auch feixte und zwinkerte er nicht, sondern starrte tiefsinnig und düster vor sich hin. Dieses Schweigen machte Philippine wütend. Sie sprang plötzlich auf, ging ohne Gruß davon und schlug erst die Zimmer-, dann die Flurtüre hinter sich zu.
Dorothea stand beim Klavier und stöberte in den Notenheften. Ihre Gedanken waren mit dem beschäftigt, was sie eben gehört hatte.
Sie erinnerte sich Daniel Nothaffts wohl. Sie wußte, daß zwischen ihm und ihrem Vater ein unversöhnlicher Haß herrschte. Sie hatte ihn gesehen; man hatte ihr den grimmig blickenden Menschen auf der Gasse gezeigt. Es war ihr damals gewesen, als habe sie schon mit ihm gesprochen, doch wußte sie nicht mehr wann und wo. Sie wußte ungefähr, was man sich über ihn erzählte und daß er in der Stadt wie der böse Feind geachtet war.
Ein zielloses Verlangen regte sich in ihrem Innern. Ihr Blut kam ins Prickeln, die stockige Umwelt geriet in Bewegung, auf einmal ergriff sie Geige und Bogen und begann mit lachendem Gesicht und verwegen blitzenden Augen einen ungarischen Tanz zu spielen.
Herr Carovius erhob den Kopf. »Tempo!« befahl er, »Tempo!« schlug den Takt mit den Händen und stampfte mit dem Fuß.
Dorothea lachte, schüttelte die Haare und spielte immer schneller.
»Tempo!« heulte Herr Carovius, »Tempo!«
Vom Hof herein drang ein krankes Bellen. Es war Cäsar, der Hund, der in den letzten Zügen lag.