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Für unsere Provinz war Dorothea Döderlein, nachdem sie aus der Hauptstadt zurückgekehrt war, eine Erscheinung, die alles Interesse auf sich lenkte. Ihr Betragen erschien zwar etwas frei, aber da sie eine Künstlerin war und ihr Name bisweilen in den Zeitungen genannt wurde, sah man ihr vieles nach. Als sie ihr erstes Konzert gab, war der große Adlersaal beinahe ausverkauft.
Der Musikkritiker des »Herold« war begeistert von ihrem kapriziösen Spiel. Er nannte sie eine phänomenale Kraft und prophezeite ihr eine glänzende Zukunft. Andreas Döderlein nahm gönnerhaft die Gratulationen entgegen, Herr Carovius schwamm in Wonne. Von Kritik war bei dem ehemals so Gestrengen keine Rede mehr; der Kultus, den er mit Dorothea trieb, machte ihn ganz urteilslos.
Anfangs fehlte es Dorothea nicht an Einladungen zu allerlei Kränzchen, Hausbällen und Familienassembleen. Sie wurde lebhaft umschwärmt, und die heiratsfähigen Töchter konnten vor Neid nicht schlafen. Bald aber zogen sich die soliden jungen Männer, gewarnt durch ihre Mütter, Schwestern und Basen, ängstlich zurück.
Es erregte Mißbilligung, daß sie mit ihren Verehrern öffentlich lustwandelte. Auch sah man sie häufig in Gesellschaft mehrerer Offiziere in der Eisenbeißschen Konditorei sitzen, wo sie Schokolade trank und ausgelassen lachte. Einmal war sie mit einem blonden Schweden von den Schuckertwerken im Tingeltangel gesehen worden; dann verbreitete sich das Gerücht, sie habe in München ein lüderliches Leben geführt, die Nächte durchschwärmt, Schulden gemacht und mit allen möglichen Männern kokettiert.
Indessen tauchten doch einige ernsthafte Bewerber auf, die durch Andreas Döderleins diplomatisches Wirken ins Haus gezogen wurden und am Sonntag mit Vater und Tochter speisten. Aber Dorothea schien es nur darauf anzulegen, einen gegen den andern zu hetzen, und da es bürgerlich denkende Männer waren, wurden sie unsicher und verwirrt. Um sie geduldig zu stimmen, hielt ihnen Döderlein bisweilen Vorträge über die verwickelte Anlage der Künstlernatur, oder er machte geheimnisvolle Andeutungen über die große Erbschaft, die seine Tochter zu gewärtigen habe.
Eben dieser Umstand nötigte ihn zur Rücksicht gegen Dorothea. Von ihrem Trotz und ihrer Unberechenbarkeit war zu befürchten, daß sie eine Dummheit beging und den alten Narren Carovius beleidigte. Es war ja schon eine große Hilfe, daß er Dorothea hie und da ein wenig Taschengeld gab.
Denn die Vermögenslage Andreas Döderleins war trostlos. Nur mit Mühe hielt er den Schein der Wohlhabenheit noch aufrecht. Die Hauptschuld hieran trug eine langjährige Beziehung zu einer Frau, mit der er drei Kinder gezeugt hatte. Diese zweite Familie zu ernähren, von deren Existenz niemand in seiner Umgebung etwas wußte, bürdete ihm eine Sorgenlast auf, unter der er die heitere Jupitermiene kaum bewahren konnte.
Seit vierzehn Jahren führte er ein Doppelleben; seine regelmäßigen Gänge zu der Geliebten, die zurückgezogen am äußersten Ende einer Vorstadt hauste, unauffällig zu machen, das Verhältnis selbst mit all seinen Folgen vor den wachsamen Augen seiner Mitbürger zu verbergen, erforderte eine beständige Verstellung, Vorsicht und Schlauheit; unter dem Druck der Geldnot erfüllten sie den Mann, der sie üben mußte, mit stiller Wut und Furcht.
Er fürchtete sich auch vor Dorothea. Es gab Augenblicke, wo er sie am liebsten mit Fäusten traktiert hätte; und sah sich doch gezwungen, sie mit süßen Worten in Schach zu halten. Sie war ihm undurchdringlich. Dabei war sie immer da, immer in lästiger Weise gegenwärtig, immer voll von Wünschen, Plänen, Geschäften und Intrigen. Man glaubte sie zu beherrschen und entdeckte plötzlich, daß sie einen tyrannisierte. Eben war sie einer Lappalie wegen in Tränen ausgebrochen, jetzt lachte sie, als ob nichts gewesen wäre. Die Rosen, die ihr die ernsthaften und wohlhabenden Bewerber brachten, zerpflückte sie vor deren Augen und warf sie dann ins Kehrichtfaß. Man ließ ihr herzliche Ermahnungen im Hinblick auf Sittsamkeit und Haltung zuteil werden, sie hörte zu wie eine Heilige, fünf Minuten später lag sie am Fenster und liebäugelte mit einem Friseurgehilfen.
Ich bin ein unglücklicher Vater, sagte sich Andreas Döderlein, als er zu allem Überfluß auch an der künstlerischen Begabung Dorotheas zu zweifeln begann. Kurz nach dem Nürnberger Erfolg hatte sie in Frankfurt gespielt, aber es blieb ziemlich still danach. Dann produzierte sie sich in einigen Mittelstädten, wurde bejubelt und mit Lorbeerkränzen bedacht, doch davon war nicht viel zu halten.
Eines Abends lernte sie bei der Kommerzienrätin Feistmantel, einer Frau, deren Vergangenheit mancher stadtbekannte Skandal verunzierte, den Schauspieler Edmund Hahn kennen. Er hatte wollige, blonde Haare und ein aufgeschwemmtes blasses Gesicht. Er war ziemlich groß und hatte lange Beine. Dorothea schwärmte für lange Beine. Es war eine sinnliche Atmosphäre um ihn, und er verschlang Dorothea mit frechen Blicken. Seine Person, sein Auftreten, seine bald blasierte, bald emphatische Redeweise machten Eindruck auf Dorothea. Bei Tisch saß er neben ihr und suchte mit seinen Füßen die Füße des Mädchens. Endlich erwischte er mit seinem linken Stiefel ihren Halbschuh und trat darauf. Sie wollte den Fuß zurückziehen, er trat fester darauf. Verwundert schaute sie ihn an. Er lächelte zynisch. Bald hernach waren sie schon ganz vertraut miteinander und zogen sich in eine Ecke zurück, von wo man Dorothea kichern hörte.
Es wurde ein Stelldichein verabredet, und sie trafen sich in der Dunkelheit an einer Straßenecke. Er schenkte ihr Freikarten zu »Maria Stuart« und zu den »Räubern«; er gab den Mortimer und den Kosinsky und brüllte, daß das Gebälk zitterte. Er machte Dorothea mit mehreren seiner Freunde bekannt, diese brachten ihre Freundinnen mit, und sie saßen im Nassauerkeller, bis der Morgen graute. Ein gewisser Samuelsky war darunter, Prokurist des Bankhauses Reutlinger; er hatte die Manieren eines Lebemanns, zahlte Champagner und war von Dorothea ganz hingerissen. Sie ließ sich seine Anbetung gefallen, auch nahm sie kleine Geschenke von ihm an, doch schien es stets, als ob sie sich zuvor der Zustimmung Edmund Hahns versicherte. Einmal wollte er sie küssen, da gab sie ihm eine schallende Ohrfeige. Er wischte sich die Backe und nannte sie eine Sirene.
Die Bezeichnung gefiel ihr. Sie stand bisweilen vor dem Spiegel und flüsterte lächelnd: »Sirene.«
Als Andreas Döderlein von dem Treiben erfuhr, bekam er einen Anfall von Raserei. »Ich verstoße dich,« schäumte er, »ich schlage dich zu einem häßlichen Krüppel.« Aber in seinen Augen war wieder jene Furcht, die seinen Berserkerzorn Lügen strafte.
»Eine Künstlerin braucht sich nicht nach den Vorschriften der Philistermoral zu richten,« sagte Dorothea mit größter Unverfrorenheit; »es sind feine Leute, mit denen ich verkehre; jeder ist ein Herr.«
Ein Herr; das war ein Argument, gegen welches kein Einspruch bei ihr galt. Der war ein Herr in ihren Augen, der sich's was kosten ließ, Kellnern und Kutschern imponierte und gebügelte Hosen trug. »Keiner darf mir zu nahe kommen,« sagte sie stolz, und das entsprach der Wahrheit, denn noch keiner hatte ihre tiefste Neugierde aufgeweckt, und sie war entschlossen, sich teuer zu verkaufen. Nur Edmund Hahn hatte Macht über sie, weil er vollkommen fühllos war und eine Art von Schamlosigkeit besaß, die sie entwaffnete und erschreckte.
Andreas Döderlein mußte sie gewähren lassen und sich mit der Überlegung trösten, daß eine echte Döderlein sich nicht wegwerfen würde. War Dorothea eine echte Döderlein, so marschierte sie zielbewußt auf das Ersprießliche und Nützliche des Lebens zu; ging sie darin fehl, so war eben ein Makel an ihrer Geburt. Und er hüllte sich kühlbeschauend in die Wolken seines Olymps.
Ihrem Onkel Carovius aber erzählte Dorothea ausführlich, wie sie die jungen und die alten Courmacher zappeln ließ. Wie der Schauspieler zappelte und der Bankmensch zappelte und der Kerzenfabrikant zappelte und der Oberingenieur zappelte und wie sie sie alle miteinander an der Nase zog. Da strahlte Herr Carovius und hieß sie seinen süßen Maulaffen und das Glück seines Alters. Er sagte sich, daß sie eine echte Carovius und ausersehen sei, Großes zu vollbringen.
»Du hast's nicht nötig, zu heiraten,« eiferte er und rieb sich die Hände; »wenn ein Graf kommt mit einem Schloß und ein paar Millionen im Hintergrund, darüber läßt sich reden, aber daß dich der erste beste Schmierenkomödiant mir wegstibitzt oder irgendein dickärschiger Bureaugaul dich in seinen Stall schleppt, das wär noch schöner. Gib's ihnen nur, gib's ihnen tüchtig, den geilen Lumpenkerlen.«
»Ach, Onkelchen,« klagte dann Dorothea, »ich weiß, du meinst es gut mit mir, du bist der einzige, der's gut meint. Aber wenn ich nur nicht gar so armselig dastünd! Schau mich an, was ich für ein Kleid tragen muß! Eine Schande.« Und sie drückte das Gesicht in den aufgehobenen Arm und schluchzte.
Herr Carovius zerrte an seinem Schnurrbart, zog die Augenbrauen hoch, dann ging er zu seinem Sekretär, öffnete eine Lade, zog einen Hundertmarkschein heraus und reichte ihn Dorothea mit abgewendetem Kopf und mit Bewegungen, als fürchte er sich vor dem erzürnten Schutzgeist des Geldschranks.
So lagen die Dinge, als Daniel im Haus des Herrn Carovius der jungen Dorothea begegnete und mit ihrem unverlöschlichen Bild in der Seele hinwegging.