Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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5

Von Döderleins Magd war wenig zu erfahren und die Bemühung, aus der kleinen Dorothea etwas herauszuholen, war ebenfalls fruchtlos. Dorothea war immer mit sich selbst beschäftigt, mit ihrem Putz, mit ihren Spielen, mit ihren kleinen Erlebnissen, und sie hörte kaum zu, wenn er sie auf der Stiege anhielt und seine schlau ersonnenen Fragen stellte.

Eines Tages fuhr er nach Erlangen, um seine Schwester in der Irrenanstalt zu besuchen. Möglicherweise, dachte er, gibt sie mir irgendeinen Aufschluß über das Geheimnis.

Margaret saß in einem Winkel der Kammer und strählte unaufhörlich ihr langes, gelbes Haar. Ihr Auge war zu Boden gerichtet, und keine List des Bruders war imstande, ihr nur ein einziges Wort zu entlocken.

Der Arzt sagte: »Sie ist ein sanfte Kranke, aber verschlossen und leidenschaftlich. Sie muß viele Jahre lang unter großem seelischen Druck gelebt haben.«

Als Herr Carovius im Sonnenschein zum Bahnhof wanderte, wurde er zu seinem Unbehagen gewahr, daß das Bild der schwermütigen Frau von seinem inneren Auge nicht mehr weichen wollte. Er trank in einer Schenke einen starken Bauernschnaps. Während der Rückfahrt saß ihm gegenüber ein Mütterchen, das ihn verständig betrachtete. Beunruhigt vom Menschenblick, setzte er sich auf einen andern Platz.

Ich habe Zeit, sagte er sich, als er die Schwierigkeiten erkannt hatte, auf die er bei seinen Nachforschungen stieß. Es blieb ihm noch übrig, den Doktor Benda irgendwie zu fassen und auszuhorchen. Er war einmal Zeuge, wie Friedrich Benda der kleinen Dorothea auf der Stiege begegnete, und die sonderbare Ängstlichkeit, mit der er dem Kinde auswich, gab ihm zu denken.

Es sollten Gasröhren gelegt werden und so hatte Carovius als Hausherr einen Anlaß, zu Friedrich Benda zu gehen. Es war die Zeit, wo Benda den letzten Versuch machen wollte, seine Rechte, die Rechte des Menschen und des Gelehrten, gegen eine Verschwörung unangreifbarer Feinde durchzusetzen.

Er war allein zu Hause und führte Herrn Carovius durch den Flurgang in sein Studierzimmer. Die Wände des Ganges waren, wie die des Zimmers, bis oben hinauf von Büchern verdeckt. Benda sagte, er sei im Begriff abzureisen, und die peinliche Artigkeit, mit der er einen Stuhl von Büchern frei machte, der gespannte Blick dann, mit dem er Herrn Carovius ansah, raubten diesem den Mut zu allem Scheingerede, und er sprach von den Gasröhren. Mit zwei Worten hatte Benda die Angelegenheit erledigt und erhob sich.

Herr Carovius stand ebenfalls auf, nahm aber den Zwicker von der Nase und putzte mit seinem blitzblauen Taschentuch die Gläser. »Wohin geht die Reise, wenn man fragen darf?« erkundigte er sich teilnehmend.

Benda erlaubte sich nie, wegen einer bloßen Antipathie einen Menschen nachlässig zu behandeln, und erwiderte höflich, er gehe nach Kiel, um sich an der Universität zu habilitieren.

»Bravo,« rief Herr Carovius, auf einmal in den Ton plumper Vertraulichkeit fallend, »man muß den Kerlen nur zeigen, daß man keine Bange hat. Bravo.«

»Ich verstehe Sie nicht ganz,« sagte Benda verwundert, und seine wachsende Abneigung war bloß an dem sich ängstlich zurückziehenden Auge erkennbar.

Herr Carovius warf einen Seitenblick voll Falschheit auf den jungen Mann. »Sie müssen mich nicht für einen ungebildeten Schlüffel halten, mein werter Herr Doktor,« antwortete er, »anch' io sono pittore. Ich habe unter anderm Ihre Schrift über die morphogene Leistung der ersten Furchungszellen gelesen. Donnerwetter! Alle Achtung! Noch keine selbständige Arbeit natürlich, gehört ja auch zu Ihren frühesten, wenn ich nicht irre, und schließt sich im Ideengang an die entwicklungsmechanischen Theorien des vielverlästerten Wilhelm Roux an, aber Sie gehen immerhin Ihren eigenen Weg. Jawohl, und Sie stecken einem ein mächtiges Licht auf über die Geheimnisse unseres Herrgotts. Da wird immer von der Freiheit der Wissenschaft gefaselt. Schöne Freiheit; na, ich danke. Ein dünkelhaftes Gelichter ist's, weiter nichts, eine brotneidische Sippe. Nur mutig in den Kampf, Verehrtester, frisch drauf los!«

Es überraschte Benda, aus dem Mund des Herrn Carovius ein Werk genannt zu hören, das sonst nur Fachgenossen kannten, aber dies steigerte sein Mißtrauen, statt es zu verringern. Er wußte zu vieles von dem Mann, um ohne Bitterkeit vor ihm stehen zu können. Es genügte, sich an den schlichten Bericht jener Frau zu erinnern, deren Jugend er zu einer Einöde und zu einem Kerker gemacht hatte, um es qualvoll zu empfinden, daß er in demselben Raum mit ihm atmen mußte.

Doch war seiner äußeren Haltung nichts anzumerken. Er antwortete ernst: »Es ist nicht einfach, mit den Menschen zu leben. Jeder hat seinen Platz und will ihn behaupten. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und Ihre freundlichen Worte, aber meine Zeit ist beschränkt, ich habe noch zu tun –,«

»Gewiß, gewiß,« beeilte sich Herr Carovius einzufallen, und sein Gesicht zeigte ein hämisches Grinsen, »brauchen mich nicht fortzuschicken, ich gehe schon. Soll um fünf Uhr auf dem Amtsgericht sein. Soll ein Dokument unterschreiben, den Aufenthalt meiner Schwester im Irrenhaus betreffend. Vermögensverwaltung oder so; weiß der Teufel. Was haben Sie denn zu dem Unglück gesagt? Sie haben sie doch näher gekannt. Na, na, Doktor, keine Ausflüchte! Sitzt in der Zelle und kämmt sich das Haar. Haben Sie eine Vermutung, wer sie so weit gebracht hat? Schließlich von einer simplen Liebelei wird man nicht verrückt. Und der Musikschwindler da unten will auch nicht mit der Farbe heraus. Ach ja, man hat seine Not!«

Um seine unverschämten Deutlichkeiten abzuschwächen, da er bedauerte und es als schädlich erkannte, seine Trümpfe zu früh ausgespielt zu haben, lächelte er skurril, duckte feig den Kopf und heftete die Augen voll banaler Neugier auf Benda.

Aber Bendas Blick war gesenkt. Bendas Blick wurde von den Schnallenschuhen des Herrn Carovius angezogen. Ein eigentümliches Grauen war es, mit dem Benda die melonengelben Streifen der Strümpfe unter den zu hoch gezogenen Hosen gewahrte, mit dem er zusah, wie die Schuhe in Bewegung gerieten, wie einer nach dem andern sich vom Fußboden entfernte und mit dem Absatz voran in häßlicher Weise, mit einem häßlichen Geräusch niederstapfte.


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