Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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3

Man müßte fort, man müßte weit weg von hier, dachte Lenore an jenem Abend, der anders gewesen war als alle andern Abende ihres Lebens.

Während sie sich kämmte, war es ihr, als müsse sie ihr Haar vom Kopf scheren, um sich häßlich zu machen. In der Nacht trat sie ans Fenster, um die Sterne zu suchen. Wenn es doch nicht geschehen wäre, wenn es doch ein Traum wäre, rief es in ihr.

Als der Morgen dämmerte, erhob sie sich. Sie eilte durch die menschenleeren Straßen vor die Stadt wie gestern. Doch es war alles anders. Baum und Busch blickten streng auf sie. Die Nebel hingen tief, aber die graue, kalte Frühe war wie ein Bad. Später brach die Sonne durch, und Himmelsschlüssel auf einer Wiese leuchteten golden. Könnt es doch ein Traum gewesen sein, flehte sie stumm.

Als sie nach Hause kam, hatte der Vater bereits die Nachricht erhalten, daß das Geld an Diruf bezahlt worden sei. Daniel hatte es hingetragen.

Der Inspektor blieb den ganzen Tag in seinem Zimmer. Auch an den folgenden Tagen ließ er sich nur beim Mittagessen sehen. Da saß er dann schweigend und mit gesenkten Augen. Bisweilen lauschte Lenore an seiner Tür. Es regte sich nichts drinnen; das Haus sang vor Ödigkeit.

Jordan hatte den Hausherrn gebeten, die Wohnung, die er für seine gegenwärtigen Verhältnisse als zu geräumig und zu kostspielig bezeichnete, vor der Kündigungszeit ausbieten zu dürfen. Dies wurde bewilligt. In dem Haus, wo Daniel und Gertrud wohnten, waren zwei Dachzimmer frei, und Gertrud hatte ihrem Vater nahegelegt, sie zu beziehen. Der Inspektor war damit einverstanden.

Lenore überlegte: wenn der Vater dort hinüberzieht, könnte ich weg von ihm. Sie erfuhr von Gertrud, die jeden andern Tag kam, um den Vater zu sehen, daß Daniel endlich die Kapellmeisterstelle am Theater erhalten habe. Noch beruhigter konnte sie also ihr Vorhaben fördern, denn Schwager und Schwester lebten ja nun in geregelten Umständen.

Sie erinnerte sich an Gespräche mit Monsieur Rivière, in denen er ihr oftmals geraten hatte, nach Paris zu gehen. Seit Weihnachten, wo er zur Bescherung eingeladen gewesen, war Monsieur Rivière häufig zu Jordans gekommen, um auf Lenores Wunsch mit ihr französisch zu sprechen.

Eines nachmittags ging sie aus, um Rivière zu besuchen. Er hatte den romantischesten Platz zur Wohnung gewählt, oben beim Gärtner auf der Burg. Das Zimmer hatte einen Altan, der von Efeu und Flieder überwuchert war, und in der Tiefe bildeten die Büsche und Bäume des Stadtgrabens ein undurchdringliches grünes Gewirr. Die Frühlingsluft stürzte in Wellen herein, und während Lenore ihr Anliegen hervorbrachte, heftete sie den entzückten Blick auf einen Maiglöckchenstrauß, der in einem kupfernen Gefäß auf dem Tische stand.

Rivière nahm eine Handvoll heraus und schenkte sie ihr; es waren noch die Knollenwurzeln daran und Lenore lachte glücklich über den Duft.

Monsieur Rivière sagte, er wolle sogleich an seine Mutter nach Paris schreiben, die durch ihre Beziehungen in der Lage sei, Lenore zu nützen.

Lenore trat auf den Altan. Die Welt ist schön, dachte sie und lächelte über die fruchtlosen Versuche eines kleinen Käfers, an einem senkrecht hängenden Blatt emporzuklimmen. Vielleicht war alles nur ein Traum, tröstete sie sich.

Zu Hause traf sie Daniel beim Vater. Die beiden Männer saßen in der Dunkelheit.

Lenore zündete die Lampe an. Dann füllte sie ein Glas mit Wasser und stellte die Maiglöckchen hinein.

»Daniel fragt, warum du nicht mehr hinüber kommst,« sagte der Inspektor, matt und zerstreut, wie er jetzt immer war. »Ich habe ihm mitgeteilt, daß du dich mit großen Plänen trägst. Nun, was ist denn die Meinung des Franzosen?«

Mit halber Stimme gab Lenore Auskunft.

»Geh du nur fort, Kind,« sagte Jordan. »Du bist schon lange reif für die große Welt. Das unterliegt keinem Zweifel. Da sei Gott vor, daß ich dir Hindernisse in den Weg lege.« Er stand schwerfällig auf und wandte sich zur Tür seines Zimmers. Die Klinke fassend, blieb er stehen und fuhr grüblerisch fort: »Es ist eigen, daß man so bei lebendigem Leib absterben kann. Daß man so das Gefühl haben kann: du bist nicht mehr für die Zeit. Und daß man nicht mehr mit kann, nicht mehr begreifen kann, nicht mehr weiß: ist es gut, ist es böse, was da kommt. Fürchterlich ist das, fürchterlich.«

Kopfschüttelnd verließ er das Zimmer. Daniel klangen seine Worte wie Rufe aus dem Grab.

Sie hatten lange geschwiegen, er und Lenore. Plötzlich fragte er schroff: »Ist das dein Ernst mit Paris?«

»Natürlich ist es mein Ernst,« antwortete sie; »kann ich etwas anderes tun?«

Er sprang auf und starrte ihr zornig ins Gesicht. »Man muß sich vor sich selber schämen,« knirschte er; »die menschliche Sprache widert einen an. Graut dir denn nicht, wenn du denkst? Graut dir nicht vor dem Fratzending, das ihr Herz oder Gemüt nennt oder so?«

»Ich versteh dich nicht, Daniel,« hauchte Lenore. Nie hätte sie für möglich gehalten, daß er ihre Reue und den Entschluß, der daraus entsprungen, nicht gutheißen könne. Also war es nicht Flamme einer einmaligen Sekunde gewesen, nicht was sie bis jetzt gehofft, als Selbstanklage von ihm zu hören erwartet, was sie auch sich hätte verzeihen, vergessen dürfen? Wo war sie denn? Wo lebte sie?

»Glaubst du, ich hab ein Spiel haben wollen?« begann Daniel wieder, indem er sie von oben bis unten maß. »Glaubst du, man kann mit der heiligsten Natur spielen? Hast eine gute Schule gehabt, machst deinen Lehrmeistern Ehre. Geh nur, ich brauch dich nicht, geh nur nach Paris und laß mich verkommen.«

Er schritt zur Türe. Er kehrte wieder um. Er nahm die Lampe, die sie beim Anzünden aus der Hängeschale genommen und auf dem Tisch hatte stehen lassen. Die Lampe in der Rechten haltend, trat er dicht vor sie hin. Unwillkürlich schlossen sich ihre Augen. »Ich will nur sehen, ob du's wirklich noch bist,« sagte er mit leidenschaftlicher Verachtung. »Ja, du bist's,« höhnte er, »du bist's.« Und er stellte die Lampe wieder auf den Tisch.

»Ich versteh dich nicht, Daniel,« hauchte Lenore. Ihre Blicke suchten in der Luft einen Halt.

»Das merk ich. Gute Nacht.«

»Daniel!«

Aber er war schon draußen. Die Flurtür krachte ins Schloß. Dann sang die Ödigkeit des Hauses.

Das verschossene grüne Sofa, der uralte Rauchfleck an der getünchten Decke, die fünf Stühle, kränklichen alten Männern ähnlich, der Spiegel mit dem vergoldeten Gipsengel oben, all das war so ermüdend, so lästig, wie Gestrüpp im Wald.

Brüderlein! Brüderlein!


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