Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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8

Herr Carovius und der alte Jordan saßen im Paradieschen.

»Wie sich doch alle Verhältnisse wandeln und wie sich alles klärt und ordnet,« sagte der alte Jordan.

»Ja, die offenen Gräber gähnen schon,« antwortete Herr Carovius zynisch.

»Ich meinerseits,« fuhr Jordan fort, ohne den Unwillen zu bemerken, den seine Redseligkeit bei Herrn Carovius erweckte, »ich meinerseits kann dem Tod nun zufrieden ins Auge sehen. Meine Mission ist beendet; mein Werk ist vollbracht.«

»Das klingt ja gerade, als ob Sie den Stein der Weisen gefunden hätten,« spottete Herr Carovius.

»Vielleicht,« erwiderte Jordan leise und beugte sich über den Tisch; »Sie haben nicht so ganz Unrecht, geschätzter Freund. Wollen Sie sich selbst überzeugen? Wollen Sie mir die Ehre Ihres Besuches schenken?«

Herr Carovius war neugierig geworden; sie zahlten ihre Zeche und begaben sich auf den Weg zum Egydienplatz.

Als sie in Jordans Kammer waren, zündete der alte Mann die Lampe an und verriegelte sorglich die Türe. Dann öffnete er den geräumigen Wandschrank und nahm zum Erstaunen des Herrn Carovius eine große Puppe heraus, die nach Art einer Älplerin gekleidet war, mit einem geblümten Rock, einer Leinenbluse und einem rosa Schürzchen. Das messinggelbe Haar war in Zöpfe geflochten, und auf dem Kopf trug sie ein grünes Filzhütchen.

»Das alles ist meiner Hände Arbeit,« sagte Jordan stolz; »hab selber das Maß genommen, selber geschneidert; sogar die Schühchen hab ich verfertigt. Und nun passen Sie auf, lieber Freund!«

Er stellte die Puppe in die Mitte der Stube. »Sie wird sprechen,« fuhr er mit strahlender Miene fort: »sie wird singen. Sie wird ein Liedchen aus ihrer Tiroler Heimat vortragen. Wollen Sie sich gütigst in diesen Sessel setzen; nicht so sehr nahe, wenn ich bitten darf, es sind da noch störende Geräusche, denen ich erst abhelfen muß. Die Illusion ist stärker, wenn Sie sich in einer gewissen Distanz halten.«

Er kauerte sich hinter die Puppe, machte sich am Rumpf zu schaffen, das Surren eines Räderwerks wurde vernehmbar, der alte Mann trat rasch wieder vor und sagte: »So, mein kleines Fräulein, laß hören, was du kannst.«

Ein unheimlich heiseres, girrendes Stimmchen erscholl aus dem Leib der Puppe; es ähnelte dem Vibrieren von Metallfäden, verbunden mit den gedämpften Tönen einer Wasserpfeife. Schloß man die Augen, so konnte man beinahe an einen fernen Gesang glauben; sah man aber hin und erblickte das tote, larvenhaft freundliche Wachsgesicht, aus dessen Innern schrille und dumpfe Laute ohne Artikulation und ohne Rhythmus kamen, so war es gespenstisch. Herr Carovius spürte einen kalten Schauder im Rücken.

Als die Maschine abgeschnurrt war, fielen die Augendeckel und die Lippen der Puppe zu. Jordans Blick war voll Spannung auf Herrn Carovius geheftet. »Nun, was ist Ihre Meinung?« fragte er. »Seien Sie ganz aufrichtig; ich vertrage jede Kritik.«

Herr Carovius hatte Mühe, seine Lachlust zu bezwingen; es zuckte ihm um Kinn und Mund. Plötzlich aber vergingen ihm Hohn und Verachtung, es wurde ihm unbehaglich ernst zu Sinn, eine lästige und seit undenklichen Zeiten nicht empfundene Weichheit regte sich in ihm, und er sagte: »Ja, das ist eine famose Sache; unbestreitbar eine famose Sache; obschon der Verbesserung bedürftig.«

Jordan nickte eifrig und erfreut. Er wollte sich über den Mechanismus und seine kunstreiche Zusammensetzung verbreiten, da vernahmen beide Männer aus dem Nebenzimmer ein Geräusch. Sie horchten auf. Ein Möbelstück wurde vom Platz gerückt, Schritte gingen hin und her, dann erschallte ein Klopfen und Knarren, als wenn mit einem Meißel eine Kiste aufgesprengt würde. Dann raschelte es laut und lange wie von zu Boden geschleudertem Papier, dann schimpfte eine Stimme, dann erhob sich ein eigentümlich grausiger Singsang in Tönen wie: Ioi! und Huh! und auf einmal knisterte es wie von Flammen.

Der alte Jordan riß die Tür auf und schrie gleich einem Kind.

Philippine stand in einem Haufen brennenden Papiers. Sie hatte Daniels Truhe geöffnet, alle Handschriften herausgeworfen und sie in Brand gesteckt. Der Anblick, den sie bot, war fürchterlich. Ihre Haare hingen verworren über die Schultern, mit den Armen machte sie unablässige Bewegungen, als ziehe sie an einem Brunnenschwengel, aus ihrem Mund kamen hohe, lallende, gurgelnde Töne, die nichts Menschenähnliches hatten, ihr von den Flammen bestrahltes Gesicht zeigte eine grauenvolle Wollust, und während Herr Carovius und der alte Jordan wie gelähmt auf der Schwelle standen, fing sie an, zu hopsen und streckte dabei die Hände gegen das Feuer aus, welches immer höher schlug.

Herr Carovius, aus seiner Erstarrung erwachend, sah, daß es höchste Zeit war, sich zu retten, und mit dem Arm sein Gesicht bedeckend, floh er, so schnell ihn seine Füße trugen, zur Flurtür und zur Stiege. Dem alten Jordan rannen die Tränen über die Wangen, der Schrecken machte ihn unfähig zu überlegen, er rannte in seine Stube zurück, öffnete das Fenster und brüllte auf den Platz hinunter, dann erinnerte er sich seiner geliebten Puppe, eilte hin und nahm sie in den Arm; aber als er das Zimmer verlassen wollte, strömte ihm der Qualm betäubend und beizend entgegen, er taumelte hindurch, gelangte bis zur Stiege, tat einen Fehltritt, stürzte, die Puppe krampfhaft fest umschließend, kopfüber die Stiege hinunter, zuckte noch einige Male und blieb dann regungslos liegen.

Ein Herzschlag hatte seinem Leben ein Ende gemacht.

Dorothea, die in der Wohnung ihre Habseligkeiten zusammengerafft hatte, eilte, den Koffer schleppend, mit fahlem Gesicht an seiner Leiche vorüber, ohne einen Blick darauf zu werfen, und verschwand in dem Gewühl aufgeregter Menschen.


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