Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7

Eines Abends trat Daniel ins Haus und begegnete Herrn Carovius, war aber so in Gedanken versunken, daß er ihn nicht sah und nicht grüßte. Herr Carovius schaute ihm zornig nach und kehrte bis an die Stiege zurück, um sich zu vergewissern, zu wem der junge Mensch ging. Als er ihn im zweiten Stock läuten hörte, bekam sein Gesicht einen unruhigen Ausdruck und er rieb sich mit der linken Hand das Kinn.

»An mir vorüber zu gehen wie an einem Klotz,« murmelte er gehässig; »warte nur, das sollst du mir entgelten, Bursche.«

Statt das Haus zu verlassen, wie er gewollt, begab er sich wieder in seine Wohnung, zündete eine Kerze an, trippelte hastig durch drei Zimmer, in denen alte Schränke und Truhen mit vielen Büchern und Notenheften standen, auch ein Klavier, und sperrte mit einem Schlüssel, den er in der Tasche trug, einen vierten Raum auf, der geschlossene Fensterläden und eine seltsame Einrichtung hatte.

Er trat an einen Tisch, der fast die ganze Länge des Raumes einnahm, griff nach einem weißen Zettelchen, setzte sich und schrieb darauf mit roter Tinte: »Daniel Nothafft, Musiker, zwei Monate Zuchthaus.«

Dann bestrich er den Zettel mit Klebegummi, drückte ihn auf eine hölzerne Schachtel, die einem Miniatur-Schilderhäuschen ähnlich sah und nagelte mit kleinen Nägeln einen bereitliegenden Deckel an die Schachtel.

Auf dem langen Tisch standen mindestens fünf Dutzend solcher Schachteln; die meisten hatten einen Namenszettel und waren mit kleinen Nägeln zugenagelt.

Das stets versperrte Zimmer nannte Herr Carovius sein Gerichtszimmer; was er darin trieb, nannte er die Regulierung seines Verhältnisses zur Menschheit, und die Sammlung kleiner Holzzellen nannte er sein Zuchthaus. Jeder Mensch, der ihn beleidigt, gekränkt, gedemütigt oder übervorteilt hatte, bekam ein solches Verließ, in welchem er im Bilde so lange schmachten mußte, bis die Zeit, dem Urteil gemäß, verstrichen war.

Damit nicht genug. Auf dem mittleren Teil des Tisches befanden sich lauter winzige Sandhügelchen, etwa dreißig an Zahl, deren jedes ein winziges Holzkreuz mit einem winzigen Namenszettel trug. Das war der Kirchhof des Herrn Carovius, und die im Bilde hier Begrabenen waren, obgleich sie ganz gesund und munter auf der Erde wanderten, gestorbene Leute für ihn. Es waren Leute, deren irdische Laufbahn für ihn erledigt war und unter deren Sündenkonto er einen Strich gemacht hatte. Leute wie Richard Wagner und seine Helfershelfer; sodann ein Papierhändler, dem er vor vielen Jahren Geld geliehen hatte und der durchgebrannt war, ferner einige Verfasser von schlechten Büchern, die viel gelesen wurden, oder von Büchern, die er verabscheute, ohne sie selbst gelesen zu haben, wie die des Herrn Zola in Paris.

Aber noch eine dritte Abteilung hatte der Tisch, und das war die sogenannte Akademie. Die Akademie war ein durch ein Drahtgitter umzäuntes Gebiet, innerhalb dessen etwa zwölf bis fünfzehn regelmäßige Felder mit schöner grüner Farbe angestrichen waren. In der Mitte jedes Feldes erhob sich ein zwei Zoll hohes Holzstäbchen und in der Mitte jedes Stäbchens wieder war eine Namenstafel gefestigt. An der Spitze einiger von diesen Stäbchen hingen kleine, aus Stoff geschnittene grüne Fähnchen.

Herr Carovius besaß nämlich eine Schwäche für den Umgang mit aristokratischen Personen. Er bewunderte insgeheim die Manieren dieser Leute, ihre Art von Gleichgültigkeit und Selbstbewußtsein, ihre unumstößlichen Traditionen, ihre geräuschlose und harmonische Lebensführung. Auf den Stäbchen der Akademie nun waren die Namen der vornehmsten und ausgezeichnetsten Familien der Stadt angebracht, wie die der Tucher, der Haller, der Humbser, der Kramer-Klett, der Auffenberg. Wenn es Herrn Carovius gelungen war, mit einem Mitglied einer dieser Familien bekannt zu werden, so hißte er auf der Spitze des betreffenden Stäbchens die grüne Fahne.

Ungeachtet allen Strebens hatte er im Lauf der Zeiten nur drei Fahnen aufpflanzen können, aber die hierdurch verkündeten Beziehungen waren recht flüchtig und zufällig und ohne ersprießliche Folgen. Ein von dem und jenem bemerkter Gruß auf der Straße oder im Konzert war alles, was erreicht werden konnte, und die Akademie zeigte im Gegensatz zum Zuchthaus und zum Kirchhof eine klägliche Verödung. Bis eines Tages das Auffenbergsche Fähnlein an die Spitze seines Mastes stieg; da schien es Herrn Carovius, als ob der Akademie eine große Zukunft sicher sei.


 << zurück weiter >>