Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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4

Lenore sollte bei Marianne und Eva schlafen, Daniel in seinem alten Zimmer. Er zeigte es Lenore, und sie traten ans Fenster und schauten hinaus. Da gewahrten sie Eva, die drunten im Hof auf einem Holzgeländer barfüßig hintänzelte. Mit ausgestreckten Ärmchen hielt sie sich im Gleichgewicht, und die Grazie ihrer Bewegungen war so elfenhaft, daß sich Daniel und Lenore einander verwundert zulächelten.

Nach dem Abendessen ging Daniel vors Haus. Marianne und Lenore saßen eine Weile beim Fenster, hinter ihnen glomm der Lampenschein. Später kamen sie ebenfalls auf die Straße und gesellten sich zu Daniel. Marianne war aber des Kindes wegen unruhig; sie meinte, es sei heute erregt gewesen und könne nach ihr rufen. »Bleibt nur draußen solang ihr wollt, ich laß die Tür halt offen,« sagte sie und kehrte um.

Da gingen Daniel und Lenore wieder auf den Jahrmarkt. Es war noch früh am Abend, doch das Gedränge war nicht mehr so dicht. Sie wanderten langsam durch die Budengasse, blieben stehen, um den Tiraden eines Ausrufers zu lauschen, oder um zuzuschauen, wie die Bauernburschen nach Figuren schossen und nach einer Glaskugel, die auf einem Wasserstrahl tanzte. Allenthalben brannten grüne und rote Lampen, vom Wall droben zischten Raketen in die Nacht, in den Wirtschaften spielten Musikanten und johlten betrunkene Zecher.

Dann kamen sie auf einen Rasenplatz, der nur durch das Licht aus einem Zirkuswägelchen beleuchtet war. Auf der Treppe des Wagens saß ein Mann in Trikot und hielt den Kopf eines schwarzen Pudels auf den Knien.

»Das waren die letzten Bewohner der Erde,« sagte Daniel, als sie den Platz überschritten hatten. Der Lärm erstarb, die bunten Lichter verschwanden.

»Wie weit willst du noch gehen?« fragte Lenore, ohne Furcht in der Stimme.

»So weit, bis ich bei dir bin,« war die rasche Antwort.

Eine Brücke zeigte sich in undeutlichem Umriß, lautlos floß das Wasser unter ihr. Der Pfad schimmerte gelblich, der Himmel war ohne Sterne. Plötzlich schien der Weg zu enden, Bäume standen da und rückten immer näher aneinander, aus der Dunkelheit wurde Finsternis, die Füße stockten.

»Wir haben einander alles gesagt,« sprach Daniel, »in Worten sind wir einander nichts mehr schuldig. Genug geschwatzt, genug gezaudert, Schmerz genug und Irrtum genug; wir können nicht mehr anders, deshalb dürfen wir nicht mehr anders.«

»Sei still,« flüsterte Lenore, »ich mag dein Hadern nicht, es ist so friedlos und böse, was du redest. Gestern hab ich geträumt, du lägest auf den Knien und hättest die Hände emporgefaltet. Da liebt ich dich sehr.«

»Brauchst du Träume, um mich zu lieben, Mädchen? Ich nicht. Ich brauche dich, so wie du bist. Dreißig werd' ich jetzt, Lenore; mit dreißig wird der Mann erst wach, da gewinnt er erst die Welt. Du weißt, was in mir ruht, du ahnst es. Du weißt auch, wie ich dich brauche, du fühlst es. Du bist mein Inwendiges, bist aus meiner Musik erschaffen, ohne dich bin ich eine leere Hülse, Stückwerk, eine Geige ohne Saiten.«

»Ach Daniel, ich glaub dir's ja, und doch ist alles nicht wahr,« erwiderte Lenore und ihm dünkte, als könne er in der Finsternis ihr spöttisch-melancholisches Lächeln sehen; »irgendwo, fast möcht ich sagen in Gott, ist es nicht wahr. Und wenn wir bessere Menschen wären, Gottesmenschen, dann müßten wir verzichten. Dann war es schön zu leben; wie über den Wolken wohnte man, froh und rein.«

»Sprichst du das aus deinem Herzen? Spricht so dein Herz, Lenore?«

»Liebster, ach Liebster! Mein Herz ist so wie deins verdunkelt und verzaubert. Ich kann ja nicht mehr von dir lassen. Ich hab mich abgefunden mit allem. Ich bin mir der ganzen Schuld in meiner Seele bewußt. Ich weiß, was ich tue und nehm es auf mich. Es nützt ja kein Sträuben mehr, über uns schlagen die Wasser zusammen. Ich meine nur, du sollst dir kein Wahnbild vorgaukeln, als ob wir damit emporgestiegen wären über andere, als ob wir uns einen Dank des Schicksals verdient hätten. Nein, Daniel, was wir tun, tun alle, die sich verlieren, tun alle, die hinuntersteigen. Laß mich bei dir sein, Liebster, küß mich, küß mich zu Tode.«


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