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Philippine hatte Lenore versprochen, am Sonntag nach dem Inspektor zu sehen und sich um Gertrud zu kümmern.
Als sie über den Fünferplatz ging, trat sie in den Kolonialwarenladen und verlangte für drei Pfennige Heftpflaster. Sie hatte sich zu Hause an einem Nagel die Haut blutig gerissen. Der Gehilfe schnitt das Pflaster ab und fragte, was es Neues gebe.
»No, Sie Lamabaz, wollen S' das Allerneueste wissen?« schnarrte Philippine mit selbstgefälligem Grinsen.
»Je neuer, je besser,« versetzte der Gehilfe lüstern.
Philippine beugte sich über den Ladentisch und raunte: »Heut machen sie zusammen die Hochzeitsreis'.« Sie lachte scheppernd, der Gehilfe riß die Augen auf. Zwei Stunden später lief das Wort durch die Mäuler aller Weiber des Viertels.
Gertrud lag im Bett. Das Aushilfsweib, das in der Küche kochte, gab Philippine einen Teller, auf dem sich das Mittag essen für den alten Jordan befand, Fleisch, Gemüse und ein paar saure Pflaumen. Auf der Stiege naschte Philippine zwei von den Pflaumen und leckte ihre Finger ab.
Den ganzen Nachmittag hindurch stöberte sie in Lenores Kammer. Sie durchsuchte die Schränke, die Schubladen und die Taschen der Kleider. Als es dämmerte, stand plötzlich, in Hut und Mantel, der Inspektor vor ihr und schaute stumm, mit vergrämtem Gesicht, der unerklärlichen Geschäftigkeit des Mädchens zu.
Philippine griff nach dem Besen, der in der Ecke lehnte, und fing an zu kehren. Dabei sang sie, falsch, frech und wild: »Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß, als heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß.«
Jordan ging fort, ohne etwas zu sagen. Er hatte vergessen, sein Zimmer abzusperren. Kaum gewahrte Philippine, daß der Schlüssel steckte, so öffnete sie die Tür und trat in die Kammer.
Mit abergläubischen, feigen Blicken spähte sie um sich her. Sie hatte Angst vor dem Inspektor wie vor einem überlegenen alten Zauberer. Für solche Fälle hatte sie gewisse Beschwörungsformeln parat; sie murmelte: »Tu Erden hinein, machs Büchslein zu, den Daumen drauf, bespuck den Schuh.« Und sie spuckte auf ihren Schuh.
Hernach hantierte sie am Schrank herum, weil sie darin die Geheimnisse des Inspektors vermutete. Aber das Schloß trotzte ihren Bemühungen, und so setzte sie sich mißmutig an den Schreibtisch. Dort standen in einfachen Holzrähmchen die Photographien Gertruds und Lenores. Sie lief hinaus, holte eine Stopfnadel und stach diese in Lenores Bild, gerade zwischen die Augen. Dann griff sie nach dem Bild Gertruds, und als sie es eine Weile in Händen gehalten und düster betrachtet hatte, gewahrte sie, daß es blutbefleckt war. Das Pflaster hatte sich von ihrem Finger losgelöst, und die Wunde hatte wieder zu bluten begonnen.
»Jetzt geh, Philippinchen und schau nach, was die Gertrud macht,« sprach sie zu sich selber. In die Kammer Gertruds tretend, fand sie diese im Schlaf. Auf den Fußspitzen schlich sie zum Bett, nahm einen Stuhl, setzte sich rittlings darauf, stützte das Kinn auf die Lehne und stierte unbeweglich in das kaum als ein Schein in der Dunkelheit wahrnehmbare Gesicht der jungen Frau.
Da träumte Gertrud, daß sich ein schwarzer Vogel über sie herabsenkte und mit dem Schnabel nach ihrer Brust hackte. Sie schrie laut auf und erwachte.
Kurz danach mußte Philippine die Wehmutter holen.
Gegen Mitternacht brachte Gertrud nach vielen Schmerzen ein Mädchen zur Welt. Philippine hatte alles mit angesehen. Stundenlang war sie mit aufgerissenen Augen von der Küche in die Kammer, von der Kammer in die Küche gelaufen und hatte wie eine Verrückte unverständliches Zeug gemurmelt.
Umsonst hatte Gertrud in ihrer Qual nach Daniel gerufen, umsonst wartete sie den ganzen Tag auf ihn.
»Wo nur der Daniel bleibt,« jammerte Philippine, »wo er nur bleibt mit seiner verfluchten Lenore!« Die Hände im Schoß gefaltet, mit wirren Haaren und verworrenen Blicken saß sie in der Ecke. Die Wehmutter war noch um Gertrud bemüht, das Neugeborene schrie kläglich.