Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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10

Sein erster Gang war zu Andreas Döderlein. Es wurde ihm mitgeteilt, der Herr Professor sei verreist. Zwei Wochen später stand er wieder in dem alten Haus auf der Füll. Nun hieß es, der Herr Professor sei heute nicht zu sprechen. Sehr entmutigt, doch um seiner Sache nichts schuldig zu bleiben, kam er nach drei Tagen zum drittenmal und wurde empfangen. Er trat in ein überheiztes Zimmer, in welchem der Professor in einem Lehnstuhl saß, sein Töchterchen, ein Kind von etwa acht Jahren auf den Knien und eine stattliche Puppe im rechten Arm hielt. Die weißen Ofenkacheln waren mit bildlichen Darstellungen aus der Nibelungensage geschmückt, auf Tisch und Stühlen lagen Notenhefte, die Fenster hatten Butzenscheiben, und in einer Ecke befand sich allerlei Gestrüpp, mit Pfauenfedern, farbigen Tüchern und chinesischen Fächern künstlich gruppiert, eine Zusammensetzung, die den Namen Makartbukett trug und in der Mode war.

Döderlein stellte das Mädchen auf die Erde, gab ihm die Puppe und richtete sich zu seiner Riesengröße auf, was ihm offensichtlichen Genuß verschaffte. Sein Hals war so dick, daß das Kinn wie auf einer weißen Gallertmasse ruhte.

Er schien sich Daniels nicht zu erinnern. Stichworte mußten die Fülle seiner Gesichte zerteilen, dann schlenkerte er mit einem Knallgeräusch zwei Finger, zum Zeichen, daß sein Geist die gewünschte Haltestation erreicht hatte. »Ja, ja! Ja freilich; gewiß, gewiß, mein lieber junger Mann; aber wie denken Sie sich das eigentlich? Gerade jetzt, wo alle Plätze so dicht besetzt sind wie eine krumenbestreute Straße von Spatzen. Möglich, daß man im Herbst darüber sprechen könnte. Ja, im Herbst, da ließe sich die Angelegenheit erwägen.«

Eine Pause, die durch ein halbes Dutzend Hms den Charakter tiefsinnigen Bedauerns erhielt. Und sei man denn echter Begabung so sicher? Habe man auch in Betracht gezogen, daß die Kunst mehr und mehr zum Tummelfeld für die Unreifen und Gescheiterten werde? Gar zu schwer seien die Schafe von den Böcken zu scheiden. Und schließlich, die Begabung vorausgesetzt, wie verhalte es sich denn mit der moralischen Kraft? Es sei doch unbestreitbar, daß darin der Kernpunkt der Frage zu suchen sei; oder nicht? Habe man eine andere Meinung darüber?

Wie im Nebel gewahrte Daniel, daß das kleine Mädchen an ihn herantrat und ihn mit einem seltsam prüfenden, seltsam ungerührten Blick betrachtete. Beinahe hätte er die Hand ausgestreckt, um die Augen des Kindes zuzudecken, dessen Art ihm in einer geisterhaften Vorahnung unheimlich war.

»Es tut mir herzlich leid, daß ich Ihnen keine tröstlicheren Aussichten eröffnen kann,« tönte wieder die ölige und von ihrem eigenen Klang freudig gehobene Stimme Andreas Döderleins an sein Ohr, »aber wie gesagt, vor dem Herbst ist nichts zu hoffen. Lassen Sie mir jedenfalls Ihre Adresse hier. Schreiben Sie Ihre Adresse auf diesen Zettel. Oder nicht? Wie Sie wollen. Adieu, junger Mann; adieu.«

Döderlein geleitete ihn bis zur Türe, kehrte hierauf zu seiner Tochter zurück, nahm sie wieder auf die Knie, die Puppe wieder auf den Arm und sagte: »Die Menschen, meine liebe Dorothea, sind ein armseliges Geschlecht. Vergleiche ich sie mit den Spatzen auf der Landstraße, so tue ich, scheint mir, den Spatzen wenig Ehre an. Hach, du lieber Gott! Schreibt nicht einmal seinen Namen auf den Zettel. Gekränkt! Ei, ei, ei,! Ihr komischen Menschen, ihr! Schreibt seinen Namen nicht; ei, ei, ei!«

Er summte das Walhalla-Motiv, und Dorothea beugte sich über die Puppe und küßte kokett lachend deren Wachsgesicht.

Daniel, vor dem Hause stehend, biß die Lippen zusammen wie ein Fiebernder, der seine Zähne am Klappern verhindern will. Warum, fragte ihn die tiefe Seele, warum bist du in ihren Schreibstuben gesessen und hast die Zeit vertan? Warum hast du für jene deinen Leib gemartert und mir die Flügel gebunden? Warum warst du taub gegen mich und wolltest Früchte sammeln, wo nur Steine sind? Warum bist du feig vor deinem Schicksal geflohen in ihre Schreibstuben, zu ihren Warenhäusern, zu ihren Geldschränken, zu ihrer traurigen Geschäftigkeit? Nur um dieser Stunde willen? Armer Narr!

Nie mehr, Seele, antwortete er, nie mehr.


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