Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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12

An einem Abend im Oktober trat der Inspektor Jordan aus einem Haus in der Breitegasse, knöpfte frierend seinen Mantel zu und ging mit hastigen Schritten durch ein Verbindungsgäßchen, das so eng war, als seien die Häuser mit einem großen Messer durchschnitten worden, gegen die Karolinenstraße. Es war spät, und er hatte Hunger. Da ihm einfiel, daß Gertrud vielleicht nichts Warmes mehr für ihn zu essen hatte, ging er in eine Wirtschaft.

Zwei Stunden hatte er damit zugebracht, einen reichen Hopfenhändler zum Abschluß einer Versicherung zu bewegen. Der Mann hatte sich immer wieder die Vorteile erklären lassen, hatte immer wieder die Tabellen studiert und sich nicht entschließen können. Dann war ihm sein Abendessen aufgetragen worden. Da saß er, zufrieden schmatzend, und von der Serviette, die er um den dicken Nacken gebunden hatte, starrten zwei Zipfel rechts und links empor wie zwei lange, weiße Ohren. Es hatte den Inspektor in seinem sozialen Bewußtsein gekränkt, daß der Mann sich sogar die höfliche Phrase einer Einladung hatte ersparen zu können geglaubt.

In der kleinen Bierkneipe, in die der Inspektor trat, saßen einige Leute an einem Tisch, darunter der Friseur Bonengel, von dem Jordan erkannt und gegrüßt wurde. Er nahm im Hintergrund des Raumes Platz und bestellte bei der häßlichen und schmutzigen Kellnerin ein paar Würste mit Kraut.

Der Friseur erzählte unflätige Anekdoten; als die Kellnerin das Essen brachte, kicherte sie und sagte: »Das ist einer, der Bonengel, das ist einer.«

Der Inspektor begann hastig zu essen, aber unversehens verging ihm die Lust. Er schob den Teller beiseite, stützte den Kopf in die Hand und schaute still in die Rauchschwaden, die in der dicken Luft unbeweglich standen.

Ihm war, als könne er das Tagewerk nicht mehr vollbringen, das er morgen und übermorgen und an all den weiterhin kommenden Tagen leisten sollte. Von einem Ende der Stadt bis zum andern rennen; immer dieselben hundertmal durchmessenen Straßen auf und ab; Stiegen hinauf und Stiegen hinunter! Immer wieder dieselben Fragen beantworten, dieselben Behauptungen aufstellen, dieselben Einwände widerlegen, täglich und immer wieder dieselbe Sache mit denselben Worten anpreisen, dasselbe Interesse heucheln, dasselbe Mißtrauen mit denselben Gründen bekämpfen, den Leuten immer wieder zur Last fallen und ihren häuslichen Frieden stören, und immer wieder zu neuer Anstrengung gepeitscht werden, immer wieder die Strafpredigten dieses nicht zu sättigenden, nicht zu rührenden Aktien-Ungeheuers und seines Statthalters Diruf anhören zu müssen, wahrlich, es war nicht mehr zu ertragen, es ging wider die Würde eines Mannes von seinen Jahren.

Er schämte sich vor sich selbst. Er war furchtbar müde.

Er gedachte seines vergangenen Lebens. Wie er sich aus der Armut seiner Jugend emporgearbeitet hatte, und es ihm gelungen war, ein geachteter Kaufmann zu werden. Das war in Ulm gewesen, und da hatte er die blonde Agnes geheiratet, die Lokomotivführerstochter.

Aber weshalb war er nicht zu Wohlstand gekommen? Viele, die ihm nachstanden an Klugheit, an Fleiß und an Manierlichkeit, waren vermögliche Leute geworden, nur er nicht. Dreimal hatte der Bankrott gedroht, dreimal hatten ihn Freunde gerettet. Dann hatte sich ihm ein Gesellschafter angetragen, war mit einigem Kapital in die Firma eingetreten, und das Geschäft war wieder flott gegangen.

Doch zeigte es sich, daß dieser Mensch keine Treue und kein Gewissen hatte. »Jordan ist mein Hemmschuh,« sagte er zu den Kunden, »Jordan versteht nichts, Jordan kann nicht rechnen.« Und der Gesellschafter ruhte nicht eher, als bis Jordan mit einer Abfindungssumme die Firma verlassen hatte.

Dann hatte er sich da versucht und dort versucht, acht oder neun Jahre lang. »Sorg dich nicht, Jordan,« hatte Agnes gesagt, »es wird schon werden.« Aber es wurde nicht. Was er auch anpacken mochte, es war am falschen Ende angepackt, zur unrechten Stunde, mit unrechten Leuten.

Es konnte nicht werden. Nicht nur, weil seine Hand zu schwer war, und vielleicht auch sein Sinn zu redlich, sondern weil er sich von einer Schimäre hatte narren lassen.

Von frühen Jahren an hatte er einen Traum gehegt, und alle seine Unternehmungen hatten darauf hingezielt, den Traum wirklich zu machen. Es war unmöglich gewesen; er hatte nie so viel Geld erübrigen können. Und wenn er den Lieblingswunsch mit Agnes besprochen hatte, wenn er geschwärmt hatte von der Zeit, wo er seinem eigentlichen Beruf würde leben können, hatte sie ihn ermutigt und mit ihm die Wege beraten. Aber es schien ihm jetzt, als hätte sie immer gewußt, daß er bloß träumte und hätte großmütig darauf verzichtet, ihn aus dem Traum zu wecken.

Von frühen Jahren an war sein Gedanke gewesen, eine Puppenfabrik zu bauen. Weshalb nun gerade eine Puppenfabrik? Hielt er es für besonders ersprießlich, Puppen zu machen? Glaubte er damit besondere Ehren, besonderen Reichtum zu gewinnen? Keineswegs. Er hätte nicht zu sagen vermocht, warum er gerade dieses erstrebte.

Es hatte ihn stets bedünken wollen, als ob die Welt der Puppen eine für sich bestehende Welt sei. Es hatte etwas Zauberisches für ihn gehabt, wenn er sich ausmalen konnte, welche Gesichter, welche Kleider, welche Haare er für die verschieden gestalteten, großen und kleinen Puppen erfinden würde. Puppen von mannigfachem Reiz bevölkerten seine Phantasie; Fürstinnen und Priesterinnen, Fischerinnen und Meerjungfrauen; Schäfer und Schäferinnen; Kasperle und lustige Teufel; solche mit Köpfen aus Porzellan und andere mit Köpfen aus Wachs, bei denen die Farbe des Lebens bis zur Vollendung nachgeahmt werden konnte, und die echte Menschenhaare hatten; solche, die die Trachten fremder Völkerschaften trugen, und andere, die wie Märchenfiguren gekleidet waren, Feen und Gnomen, ein Aladdin, ein Harun al Raschid, ein morgenländischer Derwisch.

Als er zum letztenmal seinen Wohnort gewechselt hatte, war seine Wahl auf Nürnberg gefallen, weil es ihn dorthin zog, wo die Puppenindustrie in ihrer Blüte stand.

Dann war Agnes gestorben, die drei Kinder waren ihm geblieben, und für die mußte er arbeiten. Für sich selbst durfte er jetzt kein Glück und Gelingen mehr hoffen, und da war die Puppenfabrik ganz und gar Schimäre geworden. Nur noch ein Ziel hatte er, nämlich für jede seiner Töchter zehntausend Mark zurückzulegen, damit sie gegen die ärgste Not gesichert seien, wenn er einmal nicht mehr war. Der Junge, der konnte sich selber helfen.

Aber bis zum heutigen Tag hatte er kaum die Hälfte dieser Summe auf die Bank geben können. Und wenn er nun um seine Stelle kam, wenn die Gebrechlichkeit des Alters ihn hinderte, das Brot zu verdienen, wenn er schließlich gezwungen wurde, die Ersparnisse anzugreifen, die er in so vielen Jahren und unter so vielen Entbehrungen gesammelt hatte, wie sollte er dann den Mädchen gegenübertreten, was für ein Lebensabend stand ihm dann bevor?

»Der Schlack hatte sich aber im Keller verkrochen, und als ihm die Frau seine Hosen bringen wollte, waren sie ins Mehlfaß gefallen,« erzählte der Friseur Bonengel.

Die Zuhörer meckerten, die Kellnerin kreischte.

Auf dem Nachhauseweg hörte der Inspektor durch das Pfeifen des Windes hindurch noch immer die dem Klappern einer Schere ähnliche Stimme des Friseurs.

Es war ihm jedes Mal unbehaglich, bei Nacht die Treppe des schmalen, alten Hauses hinaufzusteigen. Das Holz krachte, als ob es brechen wollte, auch schien es ihm bisweilen, als kämen ihm blinde Menschen entgegen. Im ersten Stock wohnte nämlich ein Augenarzt, und er hatte oft Blinde gesehen.

Auf dem Tisch seines Zimmers lag ein Brief. Der Umschlag trug den Vordruck: Generalagentur der Prudentia. Er ging eine Weile auf und ab, ehe er die Hülle zerriß. Es war die Kündigung seines Postens.


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