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Im Anfang, als Jason Philipp erfahren hatte, daß Philippine täglich zu den Jordanschen Töchtern ging, hatte er ihr diesen Verkehr streng untersagt und zu wiederholten Malen. Philippine kümmerte sich nicht darum und tat, was ihr beliebte.
»Ich schlag dich tot,« schrie Jason Philipp das Mädchen an.
Philippine zuckte die Achseln und lachte frech.
Da sah Jason Philipp, daß eine erwachsene Person vor ihm stand; er fürchtete sich vor dem tückischen Blick seiner Tochter.
Lange wußte er nicht, was sie zu seinen Feinden trieb; dann kam er dahinter, daß sie in der Nachbarschaft, bei Bekannten und Fremden, überall, wohin sie den Fuß setzte, die boshaftesten Gerüchte über Daniel und dessen Familie ausstreute. Nun wurde er zahmer und wollte auch etwas von dem Ohrenschmaus abkriegen. Bisweilen ließ er sich herbei, mit Philippine ein Gespräch anzuknüpfen, und wenn sie ihm ihre Neuigkeiten erzählte, freute er sich diebisch. »Der Tag wird auch noch kommen, wo ich mein Mütchen an dem Musikemacher kühlen kann,« sagte er.
Therese lag noch immer im Bett. Willibald mußte ihr in seinen freien Stunden vorlesen, entweder aus der Zeitung oder aus einem Schundroman. War sie allein, so starrte sie regungslos gegen die Zimmerdecke.
Dann kam die Zeit, wo Willibald die Schule verließ und zu einem Fabrikanten nach Fürth in die Lehre gegeben wurde. Es war kein Zweifel, daß er einer von den pflichttreuen und nüchternen Arbeitsmenschen werden würde, die der Stolz ihrer Eltern sind und mit jedem Jahr um dreißig Mark Gehalt mehr auf der sozialen Stufenleiter emporsteigen.
Der einäugige Markus trat in die väterliche Buchhandlung und wußte alsbald in der Romanliteratur von Dumas und Luise Mühlbach bis Ohnet und Zola Bescheid, und in den populären Wissenschaften von Darwin bis Mantegazza. Sein Gehirn war ein Bücherkatalog und sein Mund ein Orakel des Geschmacks von der letzten Ostermesse. Aber er liebte die Bücher nicht nur nicht, sondern all das gedruckte Zeug erschien ihm als ein lustiger Betrug an Leuten, die nicht wissen, was sie mit ihrem Geld anfangen sollen. Der Kommis Zwanziger hatte die Witwe eines Käsehändlers geheiratet und betrieb einen Laden auf der Regensburger Chaussee.
»Ein miserabler Geschäftsgang,« äußerte sich Jason Philipp bei jedem Wochenabschluß. »Ich war Zeit meines Lebens ein zu großer Idealist,« pflegte er hinzuzufügen; »hätt ich mich mehr für mein eigenes als für das Wohl der andern eingesetzt, ich stünde heute nicht so belämmert da.«
Und er ging ins Wirthaus und politisierte. Er hatte sich allmählich zu einem richtigen Querulanten herausgebildet, dem niemand etwas recht machte, weder die Regierung, noch die Opposition. Wenn man ihn hörte, mußte man glauben, daß die Gegensätze sich mit Notwendigkeit auf einen geistigen Zweikampf zwischen dem Fürsten Bismarck und Jason Philipp Schimmelweis zuspitzten. Als der Kaiser Wilhelm starb, trug Jason Philipp eine Miene zur Schau, wie wenn er demnächst das Reichskanzlerpalais beziehen sollte, und als wenige Monate später in diesem denkwürdigen Jahr auch der Kaiser Friedrich seinem Leiden erlag, glich Jason Philipp dem Steuermann, von dessen Unerschrockenheit allein die Rettung des vom Sturm umhergeworfenen Schiffes abhängt.
Geborene Helden erobern stets ein Forum, wo sie sich betätigen können; hat sie das öffentliche Leben zurückgestoßen, so finden sie in der Kneipe ein freundliches Element.
Eines Tages erhob sich Therese von dem Lager, auf welchem sie fünfzehn Monate verbracht hatte und schien plötzlich wieder gesund. Der Arzt sagte, es sei der eigentümlichste Fall, der ihm je untergekommen. Jason Philipp erwiderte: »Das ist der Triumph einer guten Konstitution.« Und er ging ins Wirtshaus, trank Bier, hielt zündende Reden und spielte Skat.
Aber Therese stand auf nicht wie eine Frau von sechsundvierzig Jahren, so viel zählte sie, sondern von siebzig. Sie hatte nur noch spärliche graue Haare auf dem viereckigen Kopf, ihr Gesicht war voller Runzeln, ihr Auge hart und kalt. Von der Zeit an schien sie jedoch nicht weiter zu altern; sie keifte nicht mehr, traf ihre Verfügungen kurz und bestimmt und betrachtete die wachsende Verarmung mit Ruhe.
Heringe, Kartoffeln und Kaffee bildeten ihre Nahrung; auch Philippine und Markus bekamen nichts anderes; Markus, als der ihrem Herzen Nächste, durfte sich ein Stück Zucker zum Kaffee nehmen, das war der ganze Unterschied. Auch Jason Philipp wurde auf schmale Kost gesetzt. Er wagte nicht aufzumucken.
Eine Weile sah Philippine dies mit an; endlich sagte sie zu ihrer Mutter: »Ich mag die Zichorienbrüh nimmer.«
»Dann sauf Wasser,« entgegnete Therese.
»Nein, in Dienst will ich gehen,« sagte Philippine.
»So geh in Dienst,« war die Antwort; »ein Maul weniger.«
»Deine Tochter will in Dienst gehen,« meldete sie, als Jason Philipp nach Haus kam.
Jason Philipp hatte im Kartenspiel verloren. »Meinetwegen geht sie zum Teufel,« erwiderte er übellaunig.
Am Morgen schlich Philippine auf den Dachboden und holte ihre Barschaft aus dem Loch in der Mauer. Es waren neunhundertundvierzig Mark, zumeist in Goldstücken, die sie im Lauf der Jahre gegen die Kleinmünze umgewechselt hatte. Durch die offene Luke fiel die Junisonne in ihr Gesicht, das niemals jung gewesen war und das nun vor der Beute langjähriger Verbrechen wie das einer Hexe aussah.
Sie steckte das Geld in einen mitgebrachten Wollstrumpf, wickelte diesen zu einem Knäuel und schob ihn in ihr Korsett zwischen die Brüste, wobei sie sich bekreuzigte und einen ihrer albernen Heilsprüche murmelte. Ihre Kleider, Bänder und sonstigen Besitztümer hatte sie schon in einem Korb verpackt; den trug sie die Stiege hinunter, und ohne von jemand Abschied zu nehmen, verließ sie das Haus.
Ihr Bruder Markus stand mit gespreizten Beinen im Sonnenschein vor der Ladentüre und pfiff ein Liedchen. Er blickte sie mit seinem einzigen Auge an und lächelte höhnisch. »Gute Wanderschaft!« rief er ihr zu.
Philippine drehte den Kopf gegen ihn und sagte: »Du Gezeichneter, du, auf dir ist kein Segen. Dir wird's noch rotzig schlecht ergehn, das merk dir.«
So also kam sie zu Daniel. Sie sagte: »Ich will bei dir bleiben; brauchst nichts zu zahlen, wennst nicht kannst.«
Daniel hatte es längst gespürt, daß Lenore den Anstrengungen nicht mehr gewachsen war, die durch die Umstände an sie gestellt wurden.
»Willst du das Kind pflegen und bei ihm schlafen?« fragte Daniel Philippine.
Philippine nickte. Sie schaute zu Boden.
»Wenn du dich seiner annimmst und es treulich meinst mit ihm und mir, das wollt ich dir danken,« sagte er aufatmend.
Da schlug Philippine die Hände vors Gesicht, und es schüttelte sie von oben bis unten. Nicht als ob sie geweint hätte; es war etwas viel Düstereres denn Weinen. Eine dämonische Gewalt schien sie zu durchwühlen, ein gespenstischer Traum sie in einem Augenblick höheren Bewußtseins schrecklich anzufassen. Sie kehrte sich um und trottete in die Kammer, wo das Kind war und mit einem hölzernen Pferdchen spielte.
Sie setzte sich auf einen Schemel und starrte versunken auf das ruhelose kleine Wesen nieder.
Daniel blieb stehen und sah ihr trübe sinnend nach.