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Als Daniel die Nachricht zu Jordans brachte, daß das Geld am nächsten Morgen da sein würde, starrte ihn der Inspektor erst ungläubig an, dann weinte er wie ein Kind.
Lenore reichte Daniel wortlos beide Hände. Gertrud, die auf dem Sofa lag, richtete sich empor, lächelte weich und sank wieder zurück. Daniel fragte, was ihr fehle und Lenore antwortete an ihrer Statt, sie fühle sich schon seit dem Nachmittag nicht wohl. »Sie muß ins Bett, sie ist müde,« fügte sie hinzu.
»Nun, so komm,« sagte Daniel und half Gertrud beim Aufstehen. Aber die Beine gehorchten ihr nicht und mit beklommener Miene schaute sie von Daniel zu Lenore.
»Macht's dir nichts aus, Väterchen, wenn ich mit hinübergehe?« wandte sich Lenore schmeichelnd an den Inspektor.
»Geh, nur, Kind,« erwiderte Jordan, »es ist gut, wenn ich jetzt ein wenig allein bin.«
Daniel und Lenore nahmen Gertrud in ihre Mitte. Auf der zweiten Stiege zur Wohnung trug Daniel seine Frau auf den Armen bis in die Schlafkammer. Sie wollte nicht leiden, daß er ihr beim Ausziehen helfe und schickte ihn hinaus. Eine Tasse heiße Milch war alles, worum sie bat.
»Es ist keine Milch da,« sagte Lenore, zu Daniel in die Wohnstube tretend. Er hielt in seinem Hin- und Herwandern inne und schaute sie wie in flüchtigem Erwachen an. »Ich lauf schnell in die Tetzelgasse und hol einen halben Liter,« erklärte sie; »ich laß die Gangtür offen, damit Gertrud nicht erschrickt, wenn ich komme.«
Sie war schon hinaus geeilt, auf einmal kehrte sie um und sagte mit freudiger Dankbarkeit, und ihre blauen Augen schwammen in seelenvollem feuchten Schimmer: »Du Lieber.«
Sein Gesicht verfinsterte sich.
Es war eine schreckliche Regelmäßigkeit in seinem Hin- und Herwandern. Die Ketten der Hängelampe klirrten. Die Flamme entsendete einen dünnen Rauchfaden, doch er merkte es nicht. Wie lang sie fortbleibt, dachte er in bewußtloser, trunkener Ungeduld und erschien sich sehr verlassen.
Er ging in den Flur und lauschte. Da schwebte ihm aus der Dunkelheit das Gesicht Philippines entgegen, in der höhnischen Unbeweglichkeit, mit der sie den Faustschlag empfangen hatte. Er trat ans Geländer und setzte sich in einer Anwandlung von Schwäche und ziellosem Trotz auf die oberste Stiegentreppe. Den Kopf auf die Hand gestützt, vernahm er Thereses Worte: Das viele schöne Geld, das viele schöne Geld.
Schatten überall; überall Schatten und Nacht.
Da kam sie endlich, Lenore, mit ihrem leichten Tritt. Als sie ihn gewahrte, blieb sie stehen. Er erhob sich und streckte den Arm aus, als ob er ihr das Milchkännchen abnehmen wolle. Sie verstand es so und reichte ihm verwundert das Kännchen. Er aber stellte es auf den Treppenabsatz, wo es im Lichtschein, der aus der Stube drang, weißlich funkelte. Er zog Lenore zu sich heran, umschlang sie und küßte sie auf den Mund.
Nur noch Kreatur, nur Weib, nur Herz und Atem, nur Sehnsucht und Vergessen, für einen Augenblick Vergessen, in einem Augenblick sich selber findend und um sich wissend, schmiegte sie sich an ihn, aber ihre Hände waren zwischen seiner Brust und ihrer Brust gefaltet und schieden sie voneinander.
Dann riß sie sich los, rang die Hände, blickte an ihm empor, schmiegte sich abermals an ihn, wich wieder zurück, rang abermals die Hände, dies alles stumm, ganz stumm, mit einer fast schaurigen Anmut und Lieblichkeit.
Es war nun alles anders, als sie sich's gedacht, tief und furchtbar anders. Da verlor sie sich, da verging sie, da wurde es dunkel in ihrem zuchtvollen Herzen und sie trat in ein zweites Sein, das mit dem ersten keinerlei Ähnlichkeit mehr hatte.
Sie war ihm nun verbunden und verfallen, es hatte sie gezwungen, das Gesetz war gültig geworden. Aber die gläserne Kugel war in Stücke zersplittert und sie stand da, unbeschützt, ja gleichsam entblößt unter den Menschen, ihren Blicken und ihren Betastungen erreichbar und preisgegeben.
Sie ging in die Küche und wärmte die Milch. Daniel kehrte in die Stube zurück. Seine Adern klopften, seine Augen brannten. Er spürte die Zeit nicht, die verfloß, und als Lenore herein kam, begann er zu zittern.
Sie näherte sich ihm und redete ihn leidenschaftlich traurig an: »Weißt du's von Gertrud? Weißt du's nicht? Sie ist guter Hoffnung, deine Frau.«
»Ich hab's nicht gewußt,« flüsterte Daniel; »hat sie dir's gesagt?«
»Jetzt eben hat sie mir's gesagt.«