Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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12

Seit einiger Zeit bemerkte Lenore, daß der Bäckergeselle, statt des Morgens die Semmeln in das Säckchen zu legen, wie er stets getan, sie achtlos durch das Gatter auf die Erde warf.

Der Zeitungsträger grüßte sie nicht mehr, der Postbote lächelte höhnisch, und sogar die Bettler, so schien es ihr, forderten Almosen mit unverschämter Miene.

Einmal kam sie durch die Schmausengasse, da lehnte ein Weib am Fenster eines Hauses, rief bei ihrem Anblick etwas in die Stube zurück, und sogleich stürzten ein junger Mensch und drei halbwüchsige Mädchen ans Fenster, tauschten Bemerkungen aus und stierten sie mit Blicken an, die sie erbleichen ließen.

Ein andermal brachte ihr Daniel eine Freikarte zu einem Konzert. Sie ging hin, und schon bei ihrem Eintritt fiel ihr das gierige und unanständige Schauen der Leute auf. Eine geputzte Dame rückte von ihrer Seite weg, einige Herren vor ihr drehten sich beständig um und grinsten sie an. Sie konnte nicht bis zum Ende bleiben und floh.

Bewegung in freier Luft hatte ihr schon über manche böse Stunde hinweggeholfen; sie ging zum Schlittschuhlaufen aufs Eis. Als man sie gewahrte, entstand ein Wispern. Sie kümmerte sich nicht darum, sie lief ihre schönen Bogen und Figuren. Aus einer Gruppe junger Mädchen wurde mit Fingern auf sie gedeutet. Mit stolz blitzenden Augen näherte sie sich der Schar, und alle stoben auseinander. Die ihr früher gehuldigt hatten, mieden sie jetzt. Ihr Gefühl war in Aufruhr und lohte bei der Erfahrung von so viel unerwarteter und zurückweichender Gemeinheit in edlem Trotz empor.

An einem Dezembertag schritt sie über den Weinmarkt und wollte durch ein enges Gäßchen zum Hallertor. Vor dem Gäßchen standen einige Männer im Gespräch. Sie erkannte Alfons Diruf unter ihnen. Sie dachte, die Leute würden Platz machen, um sie durchzulassen, aber keiner rührte sich. Sie starrten sie frech an. Nun hätte sie ja weitergehen und einen andern Weg wählen können, doch jener Trotz zwang sie, zu verharren, und unter der Flammenbläue ihrer Augen bequemten sich die Niederträchtigen endlich zu trägem Ausweichen. Sie bildeten ein Spalier, durch welches sie gehen mußte, und ärger als dieses war es, sich von den unzüchtigen Blicken verfolgt zu fühlen, das Lachen vernehmen zu müssen, das sonst bei Nacht aus Wirtshäusern klang, wenn sie beieinander hockten und Zoten erzählten.

Manchmal in der Dämmerung und am Abend dünkte es ihr, es gehe jemand hinter ihr her. Einst drehte sie sich um, und wirklich sah sie einen Menschen. Der Mensch trug einen Havelock; er trat dann hastig in ein Tor. Wenige Tage später ereignete sich das gleiche, aber nun erschrak sie zu tiefst, weil sie Herrn Carovius erkannt zu haben glaubte.

Eines Abends verließ sie das Haus, da bemerkte sie dieselbe Gestalt an der Kirche drüben. Und als sie zögerte und überlegte, kam noch eine andere Gestalt hinzu. Es schien ihr, als ob dies Philippine sei. Sie sprachen leise miteinander, aber Lenore konnte sie nicht genau sehen, der Schnee fiel zu dicht, die Laterne war zu weit.

Sie wußte nicht, weshalb, aber plötzlich hatte sie Angst um Daniel. Bloß um ihn; ihm drohte Gefahr, so schien es ihr, wenn sie nicht umkehrte. Und sie stürmte die Treppe hinauf bis zur Dachkammer. Sie pochte an die Tür; kein Laut. Sie öffnete; es war finster. Aber sie sah, daß sich sein Körper im finsteren Raum gegen das Schneelicht draußen abhob. Er saß am Klavier, hatte die Arme auf den Deckel und den Kopf zwischen die Hände gestützt. Mit einem süßen Weheton eilte Lenore hin und umschlang ihn.

Daniel nahm sie auf seinen Schoß, drückte ihren Kopf an seine Brust und lachte mit offenem Mund und gleißenden Zähnen, aber ohne einen Laut. So lachte er jetzt oft.


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