Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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4

Um jene Zeit starb der Oberoffizial Becker, der seit achtundzwanzig Jahren den zweiten Stock bewohnt hatte, und als neue Mietspartei zog Doktor Benda mit seiner Mutter ins Haus.

Carovius erzählte das Ereignis am Stammtisch, und man konnte ihm dort verschiedenes über die Herkunft und das Leben Bendas berichten. Es wurde gesagt, daß die Familie früher reich gewesen, dieses Reichtums im Jahr des großen Krachs verlustig gegangen und nun auf eine mäßige Wohlhabenheit beschränkt war. Bendas Vater habe sich damals erschossen, wurde gesagt, und seine Mutter habe ihn nach den Hochschulen begleitet, an denen er studiert. Der Fiskalrat Korn wollte gehört haben, daß er trotz seiner Jugend schon bedeutende wissenschaftliche Arbeiten auf biologischem Gebiet geliefert, daß ihn dies aber nicht ans Ziel geführt habe.

An welches Ziel? wurde gefragt. Nun, er habe nach der Professur gestrebt, und dem sei man entgegengetreten. Warum denn entgegengetreten? Nun, man werde doch nicht ohne weiters einem Juden das Lehramt an einer Universität übertragen, das verstehe sich doch von selbst. Das verstehe sich allerdings von selbst, meinte Herr Carovius, obschon dieser Benda durchaus nicht wie ein Jude aussehe, eher wie ein Holländer, ein ziemlich fetter Holländer. Er sei zwar nicht ganz blond, aber auch nicht ganz schwarz, und seine Nase sei so gerade wie ein Lineal.

Eben, das sei ja der neue jüdische Kniff, antwortete der Assessor und tat einen gewaltigen Schluck aus seinem Maßkrug; in alten Zeiten hätten sie den gelben Fleck getragen, hätten Geiernasen gehabt und Haare wie die Buschmänner; heute sei kein Christenmensch mehr sicher, daß er nicht dem einen oder dem andern gelegentlich mal aufsitze. Dem wurde zugestimmt.

Herr Carovius legte sich auf die Lauer. Er spähte in den Gesichtern der neuen Mieter und forschte nach ihrem Umgang. Er wußte, wann sie abends das Licht auslöschten und am Morgen die Fenster öffneten. Er wußte, wieviel Teppiche sie besaßen, wieviel Fleisch sie verzehrten, wieviel Kohle sie verbrauchten, wieviel Briefe sie bekamen, welche Spaziergänge sie bevorzugten, welche Personen sie grüßten und von welchen sie gegrüßt wurden. Zum Überfluß verschaffte er sich alle Schriften, die von Friedrich Benda im Buchhandel erschienen waren und las im Schweiße seines Angesichts die schwierigen wissenschaftlichen Untersuchungen. Er ärgerte sich, daß ihm das Urteil darüber fehlte, und hätte jeden umarmt, der ihm gesagt hätte, es seien nichtswürdige Machwerke.

Als er einmal im Frühjahr um die Dämmerstunde in den Hof ging, um dem Hunde Cäsar Futter zu reichen, gewahrte er, emporblickend, seine Schwester Margaret oben auf der Galerie. Sie sah ihn nicht, sie blickte ebenfalls empor, denn auf der Galerie im zweiten Stock, schräg ihr gegenüber, stand Friedrich Benda und erwiderte stumm ein stummes Zeichen, das sie ihm gemacht. Dann schauten sie einander bloß an, bis Margaret endlich ihren Bruder bemerkte und lautlos hinter der grünverhangenen Glastür verschwand.

Oho, dachte Herr Carovius, da geht etwas vor. Eine wohltätige Aufregung durchrieselte seine Adern.

Von nun an mied er den Hof. Aber er saß stundenlang jeden Tag in einer Kammer, von wo er durch einen Spalt zwischen den Gardinen die Fenster und Galerien genau beobachten konnte. Er entdeckte, daß vom ersten in den zweiten Stock durch die veränderten Stellungen eines Blumentopfes auf dem Geländer bestimmte Signale gegeben und daß die Signale erwidert wurden, indem oben ein gelbes Tuch bald an einem Längs-, bald an einem Querbalken flatterte.

Bisweilen trat Margaret scheu hervor und sandte einen Blick in die Höhe, bisweilen kam Benda, blieb an der Brüstung stehen und verlor sich in anscheinend trübe Gedanken. Beide zusammen ertappte Herr Carovius nur noch ein einziges Mal; er riß den Fensterflügel auf und steckte das Ohr in die Öffnung, aber da wurde in einem Nachbarhof eine Kiste zugehämmert, und infolge des Lärms konnte er nicht verstehen, was sie sagten.

Seit jenem Tag hatten sie einander keine Signale mehr gegeben und sich auf den Galerien nicht mehr gezeigt.

Herr Carovius rieb sich die Hände bei dem Gedanken, daß der majestätische Andreas Döderlein am Ende gar Hörner aufgesetzt bekäme; aber seine Freude verringerte sich durch die Vorstellung, daß zwei andere Personen aus diesem Unternehmen einen Gewinn zogen. Dies durfte nicht sein, dem mußte gesteuert werden.

So stand er manchmal am Abend in dem schmalen Flur vor seinen Stuben, der Schlafrock hing ihm faltenreich um den dürren Leib, und die brennende Kerze tragend, lauschte er in die Stille des Hauses.

Auch kam es vor, daß er spät in der Nacht mit einer Blendlaterne Schritt um Schritt die Treppen hinaufging und lauschte, gierig lauschte. Es war etwas in der Luft, das ihm Kunde zutrug von geheimen und schändlichen Beziehungen.

Trug es ihm auch Kunde zu von der Verdunkelung in Margarets Geist und Gemüt? Von ihrer Gewissensangst und dem wachsenden Wahn ihres geschreckten und für immer gebrochenen Herzens?

Später erfuhr er von Ausbrüchen törichter Angst um das Leben des Kindes; daß sie das Kind nicht mehr von ihrer Seite lassen wollte; daß ihr die natürliche Körperwärme als eine fieberhafte Verfassung erschienen war und daß sie jeden Morgen an Dorotheas Bett gejammert, das Mädchen auf den Arm gehoben, den Puls befühlt, den Körper in Decken gehüllt hatte und Nacht für Nacht wachend und betend neben der ruhig Schlummernden gesessen war. So erzählte später die Magd.

Eines Tages kam Herr Carovius nach Hause und sah einen Krankenwagen und gaffende Menschen vor dem Tor. Da ging er die Stiege hinauf und hörte ein dumpfes Wimmern. Margaret wurde von zwei Männern aus der Wohnung geschleppt und Andreas Döderlein schritt mit anklagendem Gesicht hinterher. Die Zimmertür war offen, drinnen lagen Scherben von Gläsern und Geschirr, und mitten in den Scherben saß Dorothea, die Lippen zum Weinen verzogen, die Stirn mit einem Tuch umbunden. Die Magd stand händeringend auf der Schwelle, und auf einer Treppenstufe zum zweiten Stock stand bleich und verstört Friedrich Benda.

Margaret wehrte sich nur noch schwach; ihre Augen flohen zurück und suchten das Kind. Herr Carovius vergrub die Hände in den Taschen seines Mantels und folgte der traurigen Karawane bis auf die Straße. Das arme Weib wurde in die Irrenanstalt nach Erlangen gebracht.

Herr Carovius sagte sich, daß hier Schuldige sein mußten, und schwor, daß er die Schuldigen zur Rechenschaft ziehen wolle. Nicht aus Schmerz, nicht aus Bruderliebe, sondern aus Haß gegen eine bewegte Welt, in deren Mitte er zur Unbeweglichkeit verdammt war.


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