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Lenore ist mein Weib, sagte sich Daniel bisweilen, und es geschah, daß er mitten auf einem Weg innehielt, um die Süßigkeit dieses Bewußtseins ganz zu halten.
Er wußte es immer. Doch wenn er bei Lenore war, vergaß er nicht selten ihre Gegenwart. Es gab Tage, wo er an ihr vorüberging wie an einem zufälligen Gast.
Es gab andere Tage, wo das Glück ihn zweifelsüchtig stimmte und ihn fragen ließ: ist es denn das Glück? warum empfinde ich's nicht schauriger, glühender?
Oft prüfte er ihre Gestalt, ihre Hände, ihren Schritt und wünschte sich neue Augen, um sie neu zu sehen. Und er ging fort, um sie besser zu sehen. Wenn er nachts mit der Kerze an ihr Bett trat, wich ein sanftes Leid aus ihren Zügen, und die Flammenbläue ihres Blicks ließ seine Pulse rascher schlagen.
Es ist ein Punkt, wo die keuscheste Frau sich nicht von einer Dirne unterscheidet; das macht den tiefsten Schmerz des Mannes, welcher liebt, und kein Weib kann diesen Schmerz verstehen oder nur ahnen.
So grübelnd und bildlos hadernd, in den Armen der Geliebten, empfing er das abgründig wehvolle Eingangsmotiv in D-moll der Symphonie, die allmählich zur großen Vision seines Lebens wurde und der, viele Jahre später, eine Anhängerin den Namen der prometheischen verlieh. Beim Erklingen des Themas brüllte er auf wie ein Tier, aber vor Freude. Ihm war, als sei in diesem Augenblick die Musik überhaupt erst geboren worden.
Er preßte Lenore so heftig an sich, daß ihr der Atem verging und murmelte zwischen den Zähnen: »Man hat nur die Wahl, aneinander stumpf oder aneinander wund zu werden.«
»Die Maske, die Maske,« flüsterte Lenore bang und wies in die Ecke, wo die Maske der Zingarella aus der Halbdunkelheit wie ein unheimlich-schönes Gespensterantlitz leuchtete.
Vor der Tür stand Philippine und horchte. Sie hatte eine Ratte gefangen, hatte sie getötet und legte den Kadaver auf die Schwelle. Als Lenore am andern Morgen in die Küche gehen wollte, stieß sie einen lauten Schrei aus und wankte zitternd in die Stube zurück.
Daniel strich über ihr Haar und sagte: »Kränk dich nicht, Lenore, auch Ratten gehören in die Ehe, so gut wie versalzene Suppen, zerbrochene Kochtöpfe und Löcher in den Strümpfen.«
»Ach, Daniel, soll das ein Vorwurf sein?« fragte Lenore mit ihrem melancholischen Kinderlächeln.
»Nein, Liebe, kein Vorwurf, nur ein Bild der Welt. Du hast eine Prinzessinnenseele, du weißt nichts von den Ratten. Sieh einmal die starren schwarzen Perlenaugen, sie erinnern mich an Jason Philipp Schimmelweis und an Alphons Diruf und an Alexander Dörmaul und an Stammtische und Kaffeekränzchen und Schweißfüße und Vereinsabende und alles, was unappetitlich, gemein und böse ist. Schau mich nicht so erstaunt an, Lenore, ich hab einen häßlichen Traum gehabt, nichts weiter. Ein lumpig aussehender Mensch wollte immerfort deinen Namen wissen, ich konnt ihn aber nicht nennen, denke dir, es war mir ganz entfallen, wie du heißt. Es war unerhört quälend. Lebwohl, lebwohl.«
Er hatte seinen Hut aufgesetzt und ging. Er rannte in die Gegend von Feucht und blieb den ganzen Tag im Freien, ohne etwas anderes zu sich zu nehmen als Schwarzbrot und Milch. Dafür staken seine Taschen am Abend bei der Rückkehr voll von Notenskizzen.
Er machte den Umweg über den Burgberg und klopfte am Häuschen Eberhards von Auffenberg an. Da nicht geöffnet wurde, schlenderte er eine Weile an dem alten Gemäuer entlang und kam gegen neun Uhr wieder. Auch jetzt waren die Fenster noch schwarz.
Seit zwei Monaten hatte er Eberhard nicht gesehen. Er entsann sich jetzt des bedrückten und erregten Wesens des Freiherrn, als er ihn zuletzt, Ende März war es gewesen, aufgesucht hatte. Eberhard hatte wenig gesprochen und mit eigentümlich blicklosen Augen vor sich hingestarrt; er hatte den Eindruck eines Menschen gemacht, der im Begriff ist, Ungewöhnliches, ja sogar Schreckliches zu erleben.
Dies kam Daniel erst jetzt zu Bewußtsein, er hatte in den vergangenen Wochen nicht mehr daran gedacht und bedauerte, sich nicht um Eberhard gekümmert zu haben.