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Daniel hielt das Kind im Arm und betrachtete es aufmerksam, doch ohne Liebe. »Was willst denn du, armer Wurm, auf der Welt?« redete er es an. Er hatte den Hut noch auf dem Kopf, Lenore ebenfalls, denn so wie sie von der Bahn gekommen waren, standen sie noch da, bestürzt und erregt von dem Geschehenen. Lenore war auffallend blaß, ihre Augen blickten groß verträumt, ihre Gestalt erschien fast knabenhaft schlank. Bisweilen lächelte sie, dann erstarb das Lächeln wieder, als fehle ihr der Mut dazu.
Auch der Inspektor war in der Stube, wie immer seit seinem Sturz in der Haltung eines Gastes, der lästig zu fallen fürchtet. Er sagte bescheiden: »Ich habe Gertrud den Vorschlag gemacht, daß ihr das Kind Agnes nennt, nach meiner seligen Frau.«
»Gut, mag es Agnes heißen,« stimmte Daniel bei.
Gertrud verlangte den Säugling zum Stillen, und Lenore trug ihn hin und legte ihn an Gertruds Brust. Indem sich die Hände der Schwestern berührten, sah Gertrud rasch empor, mit einem unbeschreiblich tiefen, wissenden, dabei zugleich freundlichen Blick. Lenore sank plötzlich in die Knie, schlang die Arme um Gertruds Hals und küßte sie leidenschaftlich. Gertrud streckte die linke Hand nach Daniel aus, und zögernd reichte er ihr seine Hand. Der Inspektor strahlte. »Es ist schön, Kinder, daß ihr euch untereinander gern habt, es ist sehr schön,« sagte er gerührt.
»Du, Daniel, mußt hinaufziehen zum Vater,« sagte Gertrud. »Dein Klavier und dein Bett und alle deine Sachen kommen heute noch hinauf, und Lenores Sachen kommen in dein Zimmer. Ich habe schon mit Vater gesprochen, und ihm ist es recht. Er wird auch sehr ruhig sein, damit du nicht gestört wirst. Das Kindergeschrei hier unten und all das Getriebe wär ja zu arg für dich.«
»Eine höchst praktische Anordnung,« antwortete Jordan an Daniels Statt und sah auf seine Rockärmel nieder, die ausgefranst waren und die er deshalb eilig hinter dem Rücken verbarg. »Es ist mir auch lieb, daß du Lenore bei dir hast. Ein Mann schläft noch lange, wenn ein Weib längst auf den Beinen ist, nicht wahr, Schwiegersohn?« Er klopfte Daniel lächelnd auf die Schulter.
»Solang Gertrud bettlägerig ist, schlaf ich hier in der Stube,« sagte Lenore und wich Daniels Blick aus, »allein kann sie doch nicht bleiben, und eine Wärterin kostet zu viel.«
»Sehr richtig, sehr richtig,« bemerkte der Inspektor und schritt zur Türe. Dort kehrte er sich aber wieder um. »Ich möchte nur wissen,« sagte er in klagendem Ton, »wer mir Gertruds und Lenores Bilder beschädigt hat. Das eine ist durchlöchert, das andere hat rote Flecken wie von Blut. Das ist doch eigentümlich, wie? Ich kann mir das gar nicht erklären. Wer mir bloß den Tort angetan hat!« Er schüttelte den Kopf und ging.
»Weißt du, daß übermorgen der erste November ist?« fragte Gertrud ihre Schwester. »Habt ihr denn die Miete? Hat der Vater was verdient?«
»Der Vater hat nichts verdient,« erwiderte Lenore, »aber ich hab das Geld fast beisammen.«
Es war auf den Inspektor in keiner Weise mehr zu rechnen. Er wurde von seinen Kindern erhalten, schien dies jedoch nicht als demütigend zu empfinden. Manchmal machte er geheimnisvolle Anspielungen auf eine große Sache, die ihn beschäftigte und die Geld und Ehre einbringen würde. Befragte man ihn des näheren, so zog er die Brauen hoch und drückte den Zeigefinger auf die Lippen.
»Ich bin dem Manne mehr schuldig als seine Miete,« ließ sich Daniel vernehmen. Er küßte Gertruds Stirn und ging hinaus.
»Leg das Kind in die Wiege und komm dann zu mir,« sagte Gertrud zu Lenore, als sich die Türe hinter Daniel geschlossen hatte. Lenore tat, wie ihr geheißen. Der Säugling schlief. Sie trug ihn und sah mit tiefer Bewegung in das häßlich verfaltete Gesicht. Dann trat sie zu Gertrud.
Gertrud packte sie an beiden Händen und zog sie mit unerwarteter Kraft zu sich herunter, bis Lenores Augen den ihren ganz nahe waren. »Du mußt ihn glücklich machen, Lenore,« sagte sie mit heiserer Stimme und einem krankhaften Leuchten ihrer schwarzen Augen, »sonst wärs besser, eine von uns wär unter der Erde.«
Trotz ihres Schreckens befreite sich Lenore mit Sanftheit. »Es ist schwer, darüber zu reden, Gertrud,« hauchte sie und wurde bleich; »es ist schwer, es zu leben und schwer, daran zu denken.«
»Du mußt ihn glücklich machen, und du mußt glücklich sein,« fuhr Gertrud wie außer sich fort. »Sag dir das jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Du mußt, du mußt, du mußt.«
»Ich will es lernen,« antwortete Lenore langsam und ernst. »Ich bin . . . ich weiß nicht, was ich jetzt bin und wie mir zumut ist. Hab nur Geduld mit mir, ich will es lernen.« Mit angstvoller Neugier schaute sie in Gertruds Gesicht. Diese aber preßte beide Hände an Lenores Wangen, zog sie abermals zu sich herab und küßte die Schwester mit sonderbarer Inbrunst. »Auch ich muß es lernen,« flüsterte sie dann kaum vernehmbar, »das ganze Leben muß ich von neuem lernen.«
Es wurde an die Tür gepocht, und die Hebamme kam, um nach ihrer Patientin zu sehen.