Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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18

Es schlug eins, als er das Haustor öffnete. Am Stiegengeländer standen die Magd vom ersten und die Magd vom zweiten Stock. Sie hatten nicht Schlaf finden können. In ihren Kammern hatten sie die Schreie der jungen Frau vernommen. Jetzt hatten sie sich zueinander gesellt und lauschten zitternd. Und raunten.

Daniel hörte die eine sagen: »Da sollte der Kapellmeister doch um den Doktor schicken.«

Die andere seufzte und erwiderte: »Ein Doktor kann auch nicht hexen.«

»Jesus, Jesus,« riefen nun alle beide, als wieder ein markerschütternder Schrei durch das öde Haus hallte.

Daniel stürmte die Treppen hinauf. »Zum Doktor Müller, so schnell du kannst,« sagte er keuchend zu Philippine, die mit struppig aufgelösten Haaren und barfuß in der Küche stand und Tee kochte. Dann eilte er zu Lenore hinein. Frau Hadebusch wollte ihn nicht zu ihr lassen, er stieß sie zähneknirschend beiseite und warf sich am Bett nieder.

Lenore hob den Kopf. Sie war totenbleich, ihr Gesicht war von Schweiß überströmt. »Daniel, du darfst hier nicht sein, darfst mich so nicht sehen,« stammelte sie mit Anstrengung, aber ihr Ton war so bestimmt und so gebieterisch, daß Daniel aufstand und zögernd aus dem Zimmer ging. Ein seltsamer, rasender Zorn erfaßte ihn. Er trank in der Küche Wasser und schleuderte das Glas zu Boden, daß es in hundert Scherben zersprang.

Frau Hadebusch war ihm gefolgt. Sie sah finster aus. Als er dies bemerkte, schwindelte ihn, und er mußte sich setzen. »Der Doktor wird kommen,« sagte er rauh.

»Herrjemine, was es jetzet für kotzwehleidige Leut gibt,« keifte die Alte, doch war ihr die Nachricht ersichtlich ganz angenehm. Sie fand sich durch den heutigen Fall in Schwierigkeiten verstrickt, denen sie sich nicht gewachsen fühlte. »Der Satan soll so ein zartgebautes Weibsvolk holen,« hatte sie vor einer Stunde gegen die grinsende Philippine bemerkt.

Philippine kam zurück und meldete, der Doktor Müller sei auf Urlaub. »Ist denn nur der eine in der Stadt, du Vieh?« heulte Daniel, »so geh zum Doktor Dingolfinger. Der wohnt noch näher, gleich neben dem Pellerhaus. Oder bleib da, ich lauf selber.«

Doktor Dingolfinger war ein jüdischer Arzt, ein ziemlich bejahrter Mann schon, und es dauerte lange, bis ihn Daniel aus dem Schlaf geläutet hatte. Endlich schritt er an seiner Seite über den Platz. Er hatte das Lämpchen im Tor stehen lassen und leuchtete dem Doktor voran.

Dann saß er auf dem Küchenbänkchen, wie lange, das wußte er nicht, den Rumpf vorgeneigt, den Kopf in die Arme gestützt. Die Schreie wurden immer ärger. Es war nicht mehr Lenores Stimme, es war eine entmenschte, eine entseelte Stimme. Daniel hörte, dachte, fühlte nichts anderes als diese Stimme. Bisweilen durchzuckte ihn der schauerliche Ruf: Schwestern! Schwestern!

Frau Hadebusch holte mehrmals heißes Wasser. Der gelbe Zahn starrte aus ihrem Unterkiefer wie ein geiles und aberwitzig freches Überbleibsel des Lebens. Einmal erschien Doktor Dingolfinger, kramte in seiner Ledertasche, die er im Flur aufgehängt hatte, erblickte Daniel und sagte mit abirrenden Augen: »Es wird schon gehen, es wird schon werden.« Danach schlurfte Philippine an den Herd und warf Kohlen zu. Mit heimlichem Schielen beobachtete sie Daniel und ging wieder. Von Stunde zu Stunde pochte der alte Jordan am Gatter, damit Philippine ihm Bericht erstatte.

Es mochte vier Uhr sein, die düsteren Steinquadern der Hofgebäude schimmerten bereits im rosigen Frühlicht, da erschallte ein Schrei so fürchterlich, so namenlos wild, daß Daniel aufsprang und an allen Gliedern bebend stehen blieb.

Dann wurde es ruhig, unheimlich ruhig.


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