Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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11

Im Frühling des Jahres 1886 zog die Truppe nordwärts ins Hessische, dann ins Thüringische, gastierte in einigen Städten des Spessart und der Rhön, und die Einnahmen wurden immer schlechter. Der Impresario Dörmaul hatte sich seit dem Herbst nicht mehr blicken lassen, die Gagen waren im Rückstand und Wurzelmann prophezeite der Wanderoper ein baldiges Ende mit Schrecken.

In der Stadt Ochsenfurt war ein längerer Aufenthalt geplant, und die Sänger und Musiker knüpften daran ihre letzten Hoffnungen, obschon man gerade im heißesten Juni war und der muffig düstere Raum, in welchem gespielt werden sollte, auch enthusiastischen Freunden des Theaters die Lust raubte, das Einerlei des landstädtischen Treibens durch einen Kunstgenuß zu unterbrechen.

Der Besuch wurde von Tag zu Tag geringer, bald war nicht mehr Geld genug in der Kasse, daß man die Reise fortsetzen konnte, zu allem Übel bekam der Tenor den Typhus, die andern Sänger weigerten sich, aufzutreten, wenn sie nicht bezahlt würden, Daniel schrieb an den Impresario Dörmaul und erhielt keine Antwort, Wurzelmann, statt zu helfen, schürte die leicht aufschäumenden Geister schadenfroh zu Lärm und Feindseligkeit, alle forderten ihr Recht von Daniel, belagerten ihn im Gasthaus, wo er wohnte und brachten es so weit, daß sich die ganze Stadt mit ihren Mißlichkeiten beschäftigte.

Da geschah es eines Nachmittags, daß ein stattlicher Herr von fünf- bis sechsundfünfzig Jahren in Daniels Zimmer trat und sich ihm als der Gutsbesitzer Sylvester von Erfft vorstellte. Sein Anliegen war folgendes.

Wie alljährlich, befand sich auch heuer der Kanzler des Deutschen Reiches im benachbarten Bade Kissingen zur Kur. Herr von Erfft hatte seine Bekanntschaft gemacht, und der Fürst, ein passionierter Landwirt, hatte den Wunsch geäußert, die Güter des Herrn von Erfft zu besichtigen, da ihm deren Verwaltung als mustergültig gerühmt worden war. Um nun die Anwesenheit des hohen Gastes würdig zu feiern, hatte man beschlossen, allem billigen Illuminations- und Hurrawesen zu entsagen und dafür in einem Rokokopavillon, der zum Erfftschen Schlosse gehörte, die »Hochzeit des Figaro« aufzuführen.

»Es ist dies eine Idee meiner Frau,« bemerkte Herr von Erfft. »Einige adlige Herren und Damen unseres Kreises wollen die Partien singen, meine Tochter Silvia, die zwei Jahre in Mailand bei Gallifati gewesen ist, wird die Rolle des Pagen übernehmen, aber was uns noch fehlt, ist ein geschultes Orchester. Deshalb komme ich zu Ihnen, Herr Kapellmeister, und bitte Sie, mit Ihren Musikern bei uns zu spielen.«

Daniel, dem das freie und freundliche Wesen des Herrn von Erfft sehr gefiel, konnte keine Zusage geben, da er sich durch die Hilflosigkeit der ihm anvertrauten Theatergesellschaft noch an Ort und Stelle für gebunden erachtete. Herr von Erfft erkundigte sich des näheren nach den Ursachen seines Bedenkens und fragte dann, ob er seine Hilfe annehmen wolle. »Gern,« erwiderte Daniel, »aber es wird nichts nützen; unser Prinzipal ist ein hartgesottener Sünder.«

Herr von Erfft ging mit Daniel zum Bürgermeister, und eine halbe Stunde später war eine amtliche Depesche an den Impresario unterwegs. Sie war kräftig genug gefaßt, um einem Staatsbürger Respekt einzuflößen, wies auf die bedrohlichen Zustände hin, die unter der Truppe eingerissen waren und heischte gebieterisch Abhilfe.

Der Impresario Dörmaul bekam Angst, und er sandte telegraphisch die Geldsumme, die erforderlich war. In einem gleichzeitigen Erlaß an Wurzelmann erklärte er die Wanderoper für aufgelöst; die meisten Verträge waren ohnehin abgelaufen, und diejenigen Mitglieder der Truppe, die noch Ansprüche zu stellen hatten, wurden vertröstet.

Daniel war also frei. Wurzelmann sagte zu ihm, als sie sich trennten: »Aus Ihnen wird nie was Rechtes werden, Nothafft. Ich habe mich in Ihnen getäuscht. Sie haben viel zu viel Gewissen. Mit der Moral verfertigt man nicht einmal Kinder, viel weniger Werke. Der Sumpf ist weich, der Gipfel felsig. Begehen Sie eine großartige Schweinerei, damit Zug in die Geschichte kommt.«

Daniel legte die Hand auf seine Schulter, sah ihn mit kalten Augen an und sagte: »Judas.«

»Schön, meinetwegen Judas,« antwortete Wurzelmann. »Ich bin nicht dafür geboren, ans Kreuz genagelt zu werden. Ich bin mehr für die Feste mit den Pharisäern.«

Er hatte beim »Phönix«, einer großen musikalischen Zeitschrift, eine Anstellung als Kritiker gefunden.

Daniel fand die Leute vom Orchester für den Ausflug nach Erfft freudig bereit. Sie bekamen dort Unterkunft in einem Wirtshaus, Daniel selbst wohnte im Schloß. Die Proben wurden mit Ernst und Eifer geführt; obwohl der Name des großen Kanzlers noch von den Wolken der Zeitlichkeit, vom Haß der Gegner, von Kleingeist und Mißverstand umdüstert war, fühlten alle diese jungen Menschen die Gewalt des Unsterblichen und waren von dem Gedanken beglückt, ihm in einer erdichteten Welt und für eine flüchtige Stunde etwas sein und bedeuten zu dürfen.

Unermüdlich war Agathe von Erfft, die Gutsherrin, im Herbeischaffen von Kostümen, in der Beseitigung technischer Hindernisse und in der Bewirtung ihrer Gäste. Die vierundzwanzigjährige Silvia hatte weder die Kraft der Mutter, noch die Liebenswürdigkeit des Vaters ererbt; sie war zart und verschlossen. Desungeachtet vermochte sie in die Rolle des Cherubin viel Anmut und Schelmerei zu legen, was als ein unvermuteter Reichtum ihrer Natur sogar ihre Eltern überraschte. Zudem war ihre Stimme weich und von reiner Bildung, und Daniel, seit Jahren an die mittelmäßigen Leistungen verdorbener Kehlen gewöhnt, nickte zufrieden, wenn sie sang.

Die andern Teilnehmer behandelte er durchaus nicht glimpflicher als die Sänger und Sängerinnen von der Wanderoper; sie mußten seine Grobheit und Bissigkeit mit guter Manier ertragen. Herr von Erfft, der bei allen Proben zugegen war, beobachtete ihn oft mit ruhiger Verwunderung, und wenn ein zu arg Gescholtener bei ihm Klage führte, antwortete er: »Laßt den Mann gewähren, der versteht sein Geschäft; es gibt nicht viele von der Sorte.«

Nur eben Silvia war es, die von ihm geschont wurde. Als Herr von Erfft den Namen zum ersten Male genannt, hatte er aufgehorcht, und als er sie sah, wußte er, daß er sie schon einmal gesehen hatte. Es war damals auf seiner Wanderschaft gewesen, da war er draußen vor dem Parktor gestanden, und man hatte sie gerufen. Dessen zu gedenken war ihm jetzt seltsam. Er war nun bei ihr und ihr doch nicht weniger fremd als damals.

Aber was ihn zu dem schönen Mädchen hinzog, hatte nichts mit dieser zufälligen Fügung zu schaffen. Auch hatte sein Gefühl keine sinnliche Gebundenheit. Es war eine traumhafte Sympathie, ähnlich der suchenden Erinnerung an ein vergessenes Glück. Es war eine dunklere und quälendere Empfindung als diejenige, die ihn an Gertrud unverbrüchlich fesselte, mehr Leid als Lust, mehr Unruhe als Bewußtsein.

Ganz in der Tiefe schlief es, dies Vergessene; hinweggespült war es von den Lebenswogen. Und nicht Silvia selber war es, nicht sie selbst. Eine Bewegung der Hand vielleicht; woher kannte er die Bewegung? Ein Zurückbiegen des Kopfes, ein stolzer, blauer Blick, woher kannte er es nur?

Vergessen, vergessen . . . .


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