Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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17

Während des Gesanges war auch Gertrud unten im Flur gestanden und hatte gelauscht. Sie kannte jeden Ton eines jeden Liedes; jede melodische Figur in der Begleitung war ihr wie ein altvertrautes Bild, und sie hatte auch sogleich begriffen, daß da eine begnadete Künstlerin sang.

Aber wie eigen es doch war: sie spürte nichts dabei. Es regte sich nichts in ihr. Ihr war, als sei ein lebendiger Strom in ihrer Brust versiegt und hätte nur Sand und Steine übrig gelassen. Dieses Nichtfühlen äußerte sich wie eine bohrende Gewissensqual.

»Mein Gott, mein Gott,« stöhnte sie, »was ist mit mir geschehen.« Sie schlug die Hände zusammen.

Am Abend ging sie in die Frauenkirche und betete lange. Das Gebet beruhigte sie jedoch nicht und verstörter als sie ausgegangen war, kehrte sie wieder heim.

Die Wohnzimmertür war offen; Daniel und Lenore saßen unter der Lampe und lasen gemeinsam in einem Buch. Der Säugling in der Wiege regte sich eben; Lenore hatte deshalb die Türe offen gelassen, damit sie das Kind hören konnte, wenn es aufwachte. Gertrud nahm das Kind in die Arme, beschwichtigte es und trat mit ihm auf die Schwelle des Wohnzimmers. Die beiden wandten ihr den Rücken zu und waren in ihrer Lektüre so vertieft, daß sie von Gertruds Anwesenheit nichts merkten.

Da kam es plötzlich wie eine Erleuchtung über Gertrud, und sie wußte um ihre Schuld, die Schuld, die zu ergründen sie so viele Wochen vergeblich gegrübelt hatte.

Sie besaß nicht Liebeskraft genug, das war ihre Schuld. Sie hatte etwas auf sich genommen, was über ihr Vermögen ging. Sie hatte eine Ehe auf sich genommen ohne die dazu erforderliche Stärke des Herzens.

Die Ehe war ihr als das Heiligtum der Heiligtümer erschienen. Die Verbundenheit mit dem Mann, den sie geliebt, war ihr gleichen Sinnes gewesen wie die Verbundenheit mit Gott. Als sie aber dieses Band zerrissen sah, stürzte die Welt in einen Abgrund, unermeßlich weit weg von Gott. Und nicht ihr Gatte erschien ihr als der Ungetreue, nicht ihre Schwester war ihr eine Schuldige, nein, sie selbst war ungetreu und schuldig in ihren Augen. Sie hatte sich nicht bewährt, hatte sich über ihre Kraft vermessen, und Gott hatte sie verworfen. Diese Überzeugung befestigte sich unumstößlich in ihrer Brust.

Und da ihr im Bunde mit Daniel die Musik ein Göttliches geworden war, erblickte sie jetzt, wo dieser Bund zerstört war, das Gefährliche und zu Meidende wie ehedem darin, und sie verstand es also, warum ihr Gefühl stumm geblieben war.

Doch wollte sie sich eine letzte Gewißheit verschaffen. Eines Morgens ging sie zu Daniel hinauf und bat ihn, ihr eine Stelle aus der »Harzreise« vorzuspielen, den Schluß des langsamen Mittelsatzes, der sie immer ganz besonders ergriffen hatte. Ihre Bitte klang so dringlich, ja angstvoll, daß Daniel ihr willfahrte, trotzdem er keineswegs in der Stimmung war. Indes Gertrud zuhörte, wurde sie bleicher von Minute zu Minute. Alles bestätigte sich furchtbar; was früher Wonne gewesen, war nun Qual; die Töne und Harmonien wirkten wie etwas Ätzendes auf ihr Inneres, und der Schmerz, den sie empfand, war so ungeheuer, daß sie nur mit großer Selbstbeherrschung imstande war, aufrechten Schrittes das Zimmer zu verlassen. Voll Unruhe schaute ihr Daniel nach.

Als sie unten angelangt war, vernahm sie ein wunderlich klingendes Geräusch aus ihrer Kammer. Sie ging hin und sah, daß die kleine Agnes in die Ecke des Raumes gekrochen war, wo die Harfe stand und mit einem Messinglöffelchen emsig gegen die Saiten schlug, wobei sie freudig lallte. Gertrud spürte einen unbestimmten Schrecken; sie packte die Harfe und schleppte sie in die Küche hinaus, und dort schraubte sie die Saiten aus dem Rahmen, rollte sie zusammen, versteckte sie in eine Schublade und trug den leeren Rahmen in die Rumpelkammer auf den Dachboden.

»Was soll ich tun?« flüsterte sie vor sich hin und sah sich hilfesuchend auf dem Dachboden um. Sie hatte Sehnsucht nach Frieden, und hier schien es ihr friedlich, darum blieb sie eine Weile und lehnte sich mit geschlossenen Augen an einen Balken.

Was soll ich tun? fragte sie sich Tag und Nacht. Ich kann meinem Mann nichts mehr sein; nur des Kindes halber ihm im Weg zu stehen, dazu habe ich kein Recht, argumentierte sie. Sie sah, wie er litt und wie Lenore litt, jedes durch sich selbst und eins durchs andere und dann noch durch die Gemeinheit der Menschen, da dachte sie: wär ich nicht da, alles wäre gut. Ihr dünkte, ja, sie war endlich dessen sicher, daß alle Wahrheit, die er ihr gegeben, nur den Zweck gehabt hatte, die eine Lüge zu übertünchen, die sie glauben lassen sollte, ihr Dasein sei eine Notwendigkeit für ihn. Das Gewicht dieser Lüge drückte ihn zu Boden, das wußte sie, und sie wollte ihn davon befreien; aber wie, das wußte sie nicht. Und wenn Daniel und Lenore einander in Ehren angehörten, dann standen sie auch vor der Welt gerechtfertigt da, vor der Welt und vor Gott; aber wie das zu erreichen wäre, wußte sie nicht.

Und sie suchte und suchte, mit schwerfälligen, jedoch beharrlichen Gedanken. Es war, als liefe sie fortwährend um einen Punkt im Kreise herum und könne nichts anderes tun als auf diesen einen Punkt starren. Jeden Morgen um fünf Uhr stand sie auf und ging in die Kirche. Sie betete mit einer Leidenschaft, die ihr Herz physisch erschöpfte.

Eines Morgens kniete sie noch verzweifelter als sonst am Altar, da glaubte sie plötzlich ein Stimmchen zu hören, welches ihr zurief: du mußt dich umbringen.

Sie fiel in Ohnmacht, und Leute eilten herbei, die ihre Stirn mit Wasser benetzten. Da konnte sie aufstehen und nach Hause gehen. Ein eigentümlich weher und verträumter Zug lag um ihren Mund.

Sie wollte sticken, sie erinnerte sich, daß ihr diese Beschäftigung, als sie noch Mädchen gewesen, die beklommensten Gedanken verscheucht hatte. Aber jedes Gewebe ihrer Hand wurde zu dem Spruch: du mußt dich umbringen.

Schluchzend sank sie an der Wiege der kleinen Agnes hin, aber das Kind sagte deutlich: du mußt dich umbringen, Mutter.

Lenore trat zur Tür herein; um ihre Stirn leuchtete genossenes Glück, ihr ganzer Leib war Glück, ihre Lippen zitterten vor Glück, und ihre Augen sprachen: du mußt dich umbringen, Schwester.

Philippine stand am Herd und raunte es in die Kohlenglut: bring dich um, Gertrud, und der Vater holte sich seinen Teller mit Essen, bedankte sich schüchtern und murmelte im Hinausgehen: bring dich um, Tochter, glaub mir, es ist das beste.

Ging sie an einem Brunnen vorüber, so zwang es sie an den Rand, und die Tiefe lockte mächtig. Aus jedem Becher, den sie hielt, um zu trinken, schaute ihr Ebenbild sie an mit Blicken von jenseits des Grabes. An einem Sonntag stieg sie auf den Vestnerturm, ihr Auge schweifte mit Abschiedskummer über das ebene Land, und in wohligem Grauen lehnte sie sich über die Brüstung des Fensterchens. Doch der Türmer hatte sie beobachtet und umklammerte gebieterisch ihre Arme.

Der Hahn, der krähte, krähte den Tod. Die Uhr, die tickte, tickte den Tod. Der Wind, der wehte, wehte den Tod. Du mußt dich umbringen, du mußt dich umbringen, davon war die Luft voll, die Erde, das Haus, die Kirche, der Morgen, der Abend und der Traum.

Im April wurde Lenore krank und bekam das Fieber. Gertrud wachte Tag und Nacht an ihrem Bett und pflegte sie mit Aufopferung. Aus Angst um Lenore irrte Daniel verstört umher, und wenn er an ihr Lager trat, hatte er für Gertrud keinen Blick. Als es Lenore besser ging, legte sich Gertrud zum Schlafen nieder, denn sie war sehr müde. Sie konnte aber nicht schlafen, und sie stand wieder auf.

Mit bloßen Füßen ging sie in die Küche, wußte jedoch nicht, was sie dorten solle. Es war nur die brennende Unruhe ihres Herzens gewesen, die sie von ihrem Lager aufgescheucht hatte. Die Glieder waren ihr so schwer, aber an keinem Platz mochte sie weilen. Später kam Daniel aus der Stadt und brachte ihr eine silberne Spange, die er an ihrem Handgelenk befestigte. Hierauf berührte er ihre Stirn mit den Lippen und sagte: »Ich danke dir, daß du so gut zu Lenore warst.«

Gertrud blieb wie angewurzelt stehen. In ihrem Innern schrie es fortwährend; es war, als wälze sich in ihrer Brust ein tödlich verwundetes Tier in seinem Blut. Daniel war schon längst in seiner Stube, aber sie stand noch immer. In düsterer Bedächtigkeit löste sie die Spange wieder von ihrem Gelenk, und sie glaubte ein häßliches Mal dort wahrzunehmen, wo das Metall die Haut berührt hatte. Sie ging in ihre Kammer, öffnete das Spind und vergrub das Schmuckstück tief unter einem Stoß weißer Wäsche.

Sie hatte nur den einen Wunsch, zu schlafen. Aber sobald sie die Augen zumachte, begann ihr Herz mit verdoppelter, verdreifachter Geschwindigkeit zu klopfen. Dann mußte sie, nach Atem ringend, in der Stube auf- und abgehen.


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