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Bevor Lenore schlafen ging, schrieb sie einen Brief an den Bureauchef Zittel, worin sie ihren sofortigen Austritt aus dem Dienst der Prudentia anmeldete.
Im Bette liegend, konnte sie keinen Schlummer finden. Sie sah sich auf dem Eis, wie sie kühne und neuartige Figuren lief; Zuschauer standen bewundernd im weiten Bogen. Sie sah das Meer mit Fischerbooten und farbigen Segeln und sah Gärten voller Rosen.
Der Vater und Benno waren längst zu Hause. Von der Kirche drüben schlug es zwölf, dann eins, dann zwei.
Da hörte sie Schritte in der Wohnung, eine Tür wurde auf- und zugemacht, dann war es wieder still, dann erschallten wieder die Schritte. Sie verließ das Bett, ging zur Tür und lauschte. Von nebenan, aus der Wohnstube, drang ein tiefer Seufzer an ihr Ohr. Leise öffnete sie die Tür und schaute durch den Spalt hinein.
Am offenen Fenster stand Gertrud; sie war im Hemd und bloßfüßig. Über dem Platz draußen schien der Mond, und der Schnee glitzerte kalt auf den Dächern. Die geisterhafte Beleuchtung machte auch das Gesicht des Mädchens geisterhaft, und das lose hängende Haar sah schwarz wie Ebenholz aus.
Lenore lief ins Zimmer und schloß das Fenster. »Was tust du, Gertrud!« rief sie erschrocken, »willst du dir den Tod holen?«
Gertruds schlanker Körper zitterte vor Frost. Ihre Zehen waren krampfhaft eingebogen. »Ja,« antwortete sie dumpf, »das möcht ich.«
»Das möchtest du?« versetzte Lenore, ebenfalls vor Kälte schlotternd, »und der Vater? Denkst du an ihn nicht? Soll er sich noch mehr abhärmen? Was fehlt dir, du Verrückte?«
»Ich bin eine Sünderin, Lenore,« schrie Gertrud, stürzte auf die Knie und umklammerte Lenores Hüften. »Ich bin eine Sünderin.«
»So? was für eine Sünde hast du denn begangen?« fragte Lenore und beugte sich ängstlich nieder.
»Warum bin ich in dem Haus da!« stöhnte Gertrud und wies um sich, »in dem Gefängnis da!« und sie faßte sich an ihre Brust. »Es ist etwas Böses über mich gekommen, böse, sündige Gedanken. Schau mich nicht an, Lenore, schau mich nicht an!«
Ihre Stimme war zu einem Kreischen geworden, entsetzt wich Lenore zurück, und Gertrud fiel mit der Stirn gegen den Boden. Die Haare bedeckten den gekrümmten, zuckenden Rücken.
Da öffnete sich die Tür, die zum Schlafzimmer des Inspektors führte, und er selbst kam mit einer brennenden Kerze herein. In Ermangelung eines Schlafrocks hatte er einen karierten Schal um die Schultern geworfen, dessen Fransen um die Knie baumelten, und auf seinem Kopf saß eine weiße Zipfelmütze.
Verstört musterte er die beiden Mädchen und wollte fragen, brachte aber kein Wort über die Lippen. Er hatte in bedrängten Lagen eine Art, düster zu schmunzeln, die in Lenore das innigste Mitleid erweckte. »Es ist nichts, Vater,« stammelte sie mit einer schamhaften Gebärde, die ihn bat, sich zu entfernen, »Gertrud hat Magenschmerzen. Sie hat nur in der Hausapotheke nachsehen wollen, ob Tropfen da sind. Geh nur, Vater, ich bring sie schon wieder zu Bett.«
»Da werd ich doch zum Doktor gehen, Kind, oder Benno wecken, daß er es tut,« sagte Jordan.
»Nein, Vater, 's ist nicht nötig, geh nur, geh.«
Er verstand die Ungeduld Lenores und zog sich gehorsam zurück. Die Kerzenflamme schirmte er mit der Hand, und sein riesiger Schatten schwankte wie ein Tier hinter ihm her.
»Steh auf, Gertrud,« sagte Lenore, »steh auf und komm mit mir.«
Gertrud ließ sich in ihre Kammer führen. Als sie schon eine Weile im Bette lag, pochte es an der Tür, und Jordans Stimme fragte, wie sie sich befinde. Lenore beruhigte ihn.
Bis der Mond hinter dem Kirchendach verschwunden war, blieb Lenore an Gertruds Bett sitzen und hielt deren große, stumme Hand in ihrer Hand. Sie hatte den Mantel umgetan, gleichwohl fror sie. Während Gertrud mit offenen, stummgewordenen Augen dalag, zeigte das bewegliche, jede Veränderung der Seele treu spiegelnde Antlitz Lenores eine unendliche Folge ernster Gedanken. Als es nun finster wurde, wandte Gertrud den Kopf gegen Lenore hin und sagte weich: »Leg dich zu mir, Lenore. Seh ich dich schlafen, dann kann ich vielleicht auch schlafen.«
Lenore warf den Mantel ab und schlüpfte unter die Decke. Nach kurzer Zeit schlummerten sie alle beide, dicht aneinandergeschmiegt.