Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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3

Als Eberhard von Auffenberg das elterliche Haus verlassen hatte, um sich auf eigene Füße zu stellen, war er hilflos wie ein Kind, das in einer Menschenmenge die Hand des erwachsenen Führers verliert.

Er fragte sich: was soll ich tun? Er hatte niemals gearbeitet. Er hatte an einigen Universitäten studiert, wie so viele andre junge Leute studieren, d. h. er hatte mit Müh und Not eine Anzahl von Prüfungen bestanden.

Das Leben hatte ihm keine Aufgaben gegeben und er besaß so wenig Ehrgeiz, daß er jeden Ehrgeizigen für einen Verrückten hielt. Die geringste praktische Leistung bot ihm unüberwindliche Schwierigkeiten, und es war ihm in seiner Freiheit traurig zumute.

Leute zu finden, die ihm auf seinen Namen Geld geborgt hätten, wäre nicht schwer gewesen. Aber er wollte nicht Schulden machen, von denen sein Vater hätte Kunde erhalten können, da wäre ja die ganze feierliche Lösung eines unwürdigen Verhältnisses Spiel und Phrase geworden.

Mit seinem künftigen Erbteil durfte er rechnen; und er rechnete damit, wenn auch in diese Rechnung der Tod des Vaters eingeschlossen werden mußte. Er brauchte einen vertrauenswürdigen Helfer und glaubte ihn in Herrn Carovius gefunden zu haben.

»Zwei Leute wie Sie und ich werden sich nicht auf unnötige Formalitäten versteifen,« sagte Herr Carovius. »Mir genügt Ihr Gesicht und Ihre Unterschrift auf einem Stück Papier. Zehn Prozent bringen wir gleich in Abzug, damit meine Auslagen gedeckt sind, das Geld ist heutzutage teuer. Ich gebe Ihnen Rentenpapiere; das Rentenpapier steht fünfundachtzig im Kurs, leider. Die Börse ist ein bißchen krank, aber der kleine Verlust spielt ja bei Ihnen keine Rolle.«

Für zehntausend Mark, die er schuldete, empfing Eberhard siebentausendsechshundertfünfzig an Barwert. Nach weniger als einem Jahr war er abermals ohne Geld und verlangte von Herrn Carovius zwanzigtausend Mark. Herr Carovius sagte, er habe eine so große Summe nicht flüssig und müsse erst einen Geldgeber suchen.

Eberhard erwiderte grämlich, er möge das nach seinem Gutdünken halten, nur bitte er sich aus, daß vor einem Dritten sein Name nicht genannt werde. Ein paar Tage später berichtete Herr Carovius von haarspalterischen Verhandlungen, von unbescheidenen Provisionen, die von einer Mittelsperson begehrt würden und von Wechseln, die ausgestellt werden müßten. Er schwor, daß ihm das Talent zu dergleichen Verrichtungen fehle, die er nur übernommen habe, weil er sich von einer fast närrisch zu heißenden Affektion für seinen jungen Freund erfaßt fühle.

Eberhard blieb ungerührt. Der aalhaft bewegliche Mann mit der piepsenden Stimme gefiel ihm nicht, ach, ganz und gar nicht, eher fing er an, ihn zu fürchten, und diese Furcht stieg im selben Maß, in dem er sich im Netz verstrickte.

Die zwanzigtausend Mark wurden gegen einen Zinsfuß von fünfunddreißig Prozent beschafft. Die Wechsel zu unterschreiben weigerte sich Eberhard anfangs; erst als Herr Carovius beteuerte, sie seien nicht für den Umlauf bestimmt, man könne sie später mit neuen Darlehen ohne Mühe einlösen und sie lägen in seinem Kassaschrank so ruhig wie die Gebeine der Auffenbergschen Ahnen in ihren Sarkophagen, gab der von solchem Wortschwall Ermüdete nach.

Mit jedem Federzug, den er tat, spürte er die Gefahr wachsen. Aber er war zu träg, um sich zu schützen, er war zu vornehm, um sich in kleinliche Erörterungen einzulassen, und er war nicht imstande, sich Einschränkungen aufzuerlegen.

Die unterschriebenen Wechsel wurden mahnend vorgezeigt; neue Darlehen beseitigten sie. Die neuen Darlehen erzeugten neue Wechsel; diese wurden prolongiert. Die Prolongation verursachte Kosten; ein unheimlicher Namenlos wurde ins Vertrauen gezogen, der Hypotheken aufnahm, Diamanten an Geldesstatt gab und minderwertige Börsenpapiere verkaufte. Als die Schuldenlast eine gewisse Höhe erreicht hatte, forderte Herr Carovius, daß der junge Freiherr sein Leben versichern lasse. Eberhard mußte willfahren; die Prämie war sehr hoch. Nach Verlauf von drei Jahren hatte Eberhard jeden Überblick verloren. Das Geld, das er bekam, verbrauchte er in gewohnter Weise, fragte nicht um die Bedingungen, wußte nicht, wohin all dies führen, wie es enden sollte und wand sich vor Abscheu bei den täppischen Annäherungen, den boshaften Stichelreden und den von Zeit zu Zeit geäußerten Drohungen des Herrn Carovius.

Wie abgeschmackt sein Lächeln war, wie leer einmal und wie tiefsinnig dann wieder sein Gespräch! Er maßte sich die unverschämte Freiheit an, bei Eberhard ein- und auszugehen, so oft es ihm paßte. Er langweilte ihn mit der Besprechung philosophischer Systeme oder mit erbärmlichem Klatsch über seine Mitbürger. Er bewachte ihn Tag und Nacht.

Er folgte ihm auf der Straße, schrie: »Herr Baron! Herr Baron!« und schwenkte den Hut. Seine Besorgnis für Eberhards Wohlbefinden glich der eines Kerkermeisters. An einem Winterabend lag Eberhard fiebernd zu Bett. Herr Carovius lief zum Arzt und verbrachte dann die ganze Nacht im Zimmer des Kranken, ohne sich um dessen ausdrücklichen Wunsch, daß er ihn allein lassen möge, zu kümmern. »Soll ich nicht an Ihre Frau Mutter schreiben?« fragte er zärtlich, als am Morgen das Fieber noch nicht gefallen war. Mit einem Wutschrei sprang Eberhard aus dem Bett und Herr Carovius ergriff die Flucht.

Herr Carovius liebte es, zu wehklagen. Er rannte um den Tisch herum und jammerte, er sei ruiniert. Er schleppte das Kontobuch herbei, addierte die Ziffern und rief: »Noch zwei Jahre so gewirtschaftet, lieber Baron, und mir blüht das Armenhaus.« Dann verlangte er Deckung, neue Sicherheiten, neue Versprechungen und legte zur Unterschrift einen Schein über die Gesamtsumme vor, der aber von dem Wirrsal der Zinsenberechnungen, Provisionen, Vergütungen und Wuchergelder nichts ahnen ließ. Herr Carovius selbst konnte sich nicht mehr zurechtfinden, denn es hatte sich auf sein Betreiben ein Konsortium stiller Hintermänner gebildet, denen er seinerseits verschuldet war, und die seinen Eifer im Dienst des jungen Freiherrn nach Kräften ausbeuteten.

»Was ist's denn mit den Weiberlein?« fragte Herr Carovius zu anderer Stunde wieder, »was wär's denn mit einem kleinen Abenteuer?« Und er merkte, daß es im Leben des jungen Freiherrn ein Geheimnis gab; er merkte es und war wütend, daß er das Geheimnis nicht ergründen konnte.

Eines Tages kam er dazu, als Eberhard seinen Koffer packte. »Wohin, Verehrtester?« krähte er erschrocken. Eberhard antwortete, er wolle in die Schweiz reisen. »In die Schweiz? Was wollen Sie denn dort machen? Ich lasse Sie nicht fort,« sagte Herr Carovius. Eberhard musterte ihn kalt. Herr Carovius verlegte sich aufs Bitten; umsonst, Eberhard reiste. Er suchte Einsamkeit, die Einsamkeit quälte ihn, er kehrte zurück, um abermals wegzureisen, er kehrte wieder zurück und hatte das Gespräch mit Lenore, das ihm die letzte Hoffnung raubte, da ging er nach München und wurde in das Treiben einer Spiritistengemeinde gezogen.

Seelische Müdigkeit beraubte ihn des Widerstandes; es war etwas zerbrochen in ihm. Eine angeborene Zweifelsucht hinderte ihn nicht, sich einem Einfluß hinzugeben, der seiner Natur ursprünglich noch fremder gewesen war als die pöbelhafte Geschäftigkeit der Alltagswelt. Mit eingeschläfertem Urteil schürfte er in einem Bezirk, wo das Trugbild und die oberflächliche Bezauberung herrscht, nach Quellen des Lebens.

Herr Carovius aber besoldete einen Spion, der den Freiherrn nicht aus den Augen lassen durfte und über alle seine Schritte Bericht erstatten mußte. Brauchte Eberhard Geld, dann war er gezwungen, zu Herrn Carovius zu kommen. Dann stand Herr Carovius schon eine Stunde vor Ankunft den Zuges auf dem Bahnhof und benahm sich so auffallend, daß die Amtspersonen und die Reisenden über ihn lachten. War der Erwartete endlich eingetroffen, so schwätzte Herr Carovius vor Freude lauter Unsinn und trippelte erregt rings um ihn herum.

Es könnte demnach scheinen, als hätte Herr Carovius eine redliche Liebe für den jungen Freiherrn empfunden. Und er liebte ihn in der Tat.

Er liebte Eberhard wie ein Spieler die Karten liebt, oder auch wie das Feuer die Kohle liebt. Er idealisierte ihn; er träumte von ihm; er atmete gern die Luft, die jener atmete; er sah in ihm einen Auserwählten, er dichtete ihm heldenhafte Züge an und war entzückt von der adeligen Unnahbarkeit seines Schützlings.

Er liebte ihn mit Haß, mit der Freude an der Vernichtung, und diese Haßliebe war zum Mittelpunkt seiner Gedanken und Gefühle geworden, in ihr drückte sich alles aus, was ihn von den Menschen schied und was ihn an den Menschen lockte. Sie beherrschte ihn unbedingt bis zu dem Zeitpunkt, wo eine zweite, ebenso furchtbare, ebenso lächerliche Leidenschaft sich ihr zugesellte.


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