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Aber es ereignete sich nichts Außerordentliches. Alles was vorging, war ganz alltäglich und scheinbar ganz gewohnt.
Der Morgen brach an und die Marktweiber nahmen die Schnüre und die Decken von ihren Körben. Frische Kirschen und junge Birnen und überwinterte Äpfel leuchteten in ihren Farben, und zahllose Sperlinge pickten im Stroh, das auf dem Pflaster lag. Die Sonnenaufgangsröte am Himmel wich morgendlichem Blau, und Wolken zogen über das Kirchendach, und die Weiber schwatzten miteinander, und Karren rasselten, und die Knechte schrien, und von den Fenstern wurden die Vorhänge weggezogen, und Gesichter von Frauen und Männern schauten heraus und sahen nach dem Wetter; verschlafene Gesichter, versorgte Gesichter, böse Gesichter und gute Gesichter, junge und alte.
Da kamen Mägde und Bürgerfrauen, um ihre Einkäufe zu machen. Prüfend betrachteten sie die Früchte und suchten den Preis herunterzuhandeln. Die Bäuerinnen lockten, und wenn ihr Locken vergeblich geblieben war, schimpften sie. Und wenn ein Kauf abgeschlossen wurde, nahmen sie ihre Wage in die Hand, taten Gewichte in die eine Schale und die Früchte in die andre und priesen die Waren so lange, bis sie das Geld eingestrichen hatten. Hierauf überzählten sie die Münzen und betrachteten sie mit einem Ausdruck, als ob sie sagen wollten: verdienen, das ist fein.
Aber diejenigen, die das Geld hergaben, hatten die Miene ängstlicher Genauigkeit, schienen in ihren Gedanken zu rechnen und, was ihnen auszugeben verstattet war, noch einmal zu überlegen. Was dabei so sonderbar war, Daniel bemerkte es immer deutlicher, war, daß sie gleichsam bis an die Grenze des ihnen wie von einem geheimnisvollen Gebieter gesteckten Bereichs gingen, und daß sie aussahen, als ob jenseits dieser Grenze das Verderben laure. Es war so viel Bedacht in der Art, wie die Pfennige hingereicht und so viel Siegerglück in der Art, wie sie genommen wurden, daß es rührend wirkte und all das Kleinleben sich plötzlich ungemein seltsam, seltsam gesetzesheilig darbot.
In respektierten Formen, die nicht verschleiert waren, spielte es sich ab; die Fülle störte nicht die Ordnung, die Worte verdunkelten nicht den Sinn. Da war die Ware, da war die Münze; Regel und Richte gaben die Schalen der Wage. Die Früchte wanderten von Korb zu Korb, und Arme trugen sie nach Hause. Jeder holte sich nach seinem Bedarf und nach dem Maß seines Vermögens, jeder hielt sich in seiner Grenze.
Und die Turmuhr schlug, und die Schatten wanderten um ein jedes Ding im Kreis. So war es heute, so war es schon vor vierhundert Jahren gewesen.
So waren die Häuser dagestanden, mit denselben Fenstern, und aus den Fenstern hatten Menschen geblickt, mit sanften oder finstern Augen. Immer dasselbe Gesetz, immer derselbe Handel, immer die nämlichen Früchte, die zur nämlichen Zeit reif geworden waren. Spatzen zwitscherten unterm Kirchendach, Wolken zogen am Himmel, Wind lief durch die Gassen, das Herz der Welt schlug in seinem ewigen Rhythmus.
Ist das nicht Therese Schimmelweis, die dort um die Ecke schleicht? Wie alt, wie gebrechlich, wie gebeugt von Jahren und Sorgen! Ihr Haar ist steingrau, ihr Gesicht wie Kalk. Sie ist ärmlich gekleidet und sieht die ihr Begegnenden nicht an. Nur auf die vollen Obstkörbe wirft sie einen Blick, der begehrlich ist und den Daniel hinter seinem Gitter mit schmerzlicher Verwunderung bemerkt.
Und humpelt da nicht Frau Hadebusch einher? Ist ihr Gesicht auch das einer abgefeimten Verbrecherin, in den Augen liegt es doch wie Panik und Schrecken. Sie hat keinen Halt als den Boden unter ihren Füßen, sie ist arm, eine verlorene, arme Seele.
Da taucht Alfons Diruf auf, der sich längst ins Privatleben zurückgezogen hat und fett und finster seinen Morgenspaziergang gegen den Stadtgraben antritt. Und da geht der Schauspieler Edmund Hahn mit Erobererblicken, und auf seinem übernächtigen Gesicht drücken sich Krankheit und stumpfe Begierden aus. Und da kauft sich der Bildhauer Schwalbe heimlich ein paar Äpfel, die er zu Hause braten will, weil er sonst nichts Warmes zu essen hat. Und ist dies nicht Herr Carovius, der da trippelt, anzusehen wie ein irrender Geist, trübselig und matt?
Und es kommen Bettler, es kommen Reiche vorbei; es kommen Geehrte, die man grüßt, und Verachtete, die man meidet; es kommen Frohe und von Sorgen Beladene, es kommen Eilende und Zaudernde; es kommen solche, die ihr Leben wie eine junge Braut umfassen, und solche, die heute noch sterben werden. Einer führt ein Kind an der Hand, einer ein Weib am Arm. Jene schleppen Lasten, und jene gehen aufrecht und frei. Den fordert das Gericht zum Zeugen, der andere sucht den Arzt zur Heilung. Der flieht vor häuslichem Unfrieden, der lächelt in Gedanken an ein Glück. Der hat seinen Geldbeutel verloren, der liest einen schicksalsvollen Brief. Der geht in die Kirche, um zu beten, jener ins Wirtshaus, um seinen Kummer zu betäuben. Der strahlt in der Erwartung guter Geschäfte, der ist niedergeschmettert, weil die Armut vor seiner Türe steht. Ein schönes Mädchen hat sich festtäglich geschmückt, ein Krüppel rastet unter einem Tor. Ein Knabe singt ein Lied, eine Matrone geht mit verweintem Gesicht. Der Bäcker trägt Brot vorbei, der Schuster Stiefel; Soldaten ziehen zur Kaserne, Arbeiter kommen aus den Fabriken.
Es ist Daniel, als sei ihm keiner fremd. Es ist ihm, als sei er in eines jeden Dasein enthalten. Auf seinem umgitterten Hochplatz ist er ihnen näher, als da er mitten unter ihnen gegangen ist. Der Wasserstrahl, den er spendet, ist wie Schicksal, das rinnt und sich im Becken sammelt. Aus der Quelle empor strömt es ihm wie ewige Weisheit zu, die Stunde wird zum Säkulum. Wie auch sonst die Menschen beschaffen sind, wenn er in ihre Augen sieht, ergreift es ihn mit überirdischem Gefühl. In allen Augen ist das Gleiche; das gleiche Feuer, die gleiche Angst, das gleiche Bitten, die gleiche Einsamkeit, das gleiche Los, der gleiche Tod; in allen ist Gottes Seele.
Und er selbst spürt seine Einsamkeit nicht mehr, er spürt sich ausgeteilt; sein Haß ist zerflattert wie Rauch. Was jetzt in Tönen webt, kommt aus der tiefen Quelle herauf, es ist das Blut all derer, die auf dem Markt gehen, und Wasser ist etwas anderes als es war; Wasser wäscht manche Seele rein, daß kein Engel mag lichter sein.
Es wurde Mittag, es wurde Abend, ein Tag der Schöpfung. Und wie es Abend geworden war, sank ein Nebel herab, da stieg Daniel von der Brunnenschale, setzte sorglich die Gänse hin und ging heim. Er trat auf den Vorplatz und auf die Schwelle der Hofkammer, da bot sich ihm ein wunderlicher Anblick.
Das Gänsemännchen saß bei Agnes und dem kleinen Gottfried und spielte mit ihnen. Es hatte aus buntem Papier Silhouetten geschnitten und sie mit umgebogenen Rändern auf den Tisch gestellt. Dort schob es sie gegeneinander und ließ sie so lustige Sachen reden, daß Agnes, die nie in ihrem Leben ordentlich gelacht hatte, auf einmal zu dem Kind wurde, das sie ja noch war, und von Herzen lachen mußte.
Der kleine Gottfried konnte nur lallen und in die Händchen patschen, und wenn er auf dem Tisch, wo er hockte, eine ungeschickte Bewegung machte, schob ihn das Gänsemännchen sacht und mit kundiger Hand wieder zurecht.
Als Daniel in die Türe trat, erhob sich das Gänsemännchen und begab sich an seine Seite. Er grüßte ihn und sagte zutraulich: »Schon wieder zurück von der Reise? Wir haben uns die Zeit ganz artig vertrieben.«
Im Zimmer war aber nun derselbe Nebel, der sich über den Brunnen gesenkt hatte, als Daniel herabgestiegen war. Da fühlten die Kinder, Agnes und Gottfried, eine schreckliche Bangigkeit und Furcht; der Knabe begann zu weinen, und Agnes schlang die Arme um ihn und weinte gleichfalls.
Daniel ging zu ihnen hin und sagte: »Weint doch nicht, ich bin ja bei euch, ihr braucht nicht mehr zu weinen.«
Er setzte sich auf denselben Platz, auf dem das Gänsemännchen gesessen, schaute sich die papierenen Figürchen an und fuhr lächelnd in demselben Spiel fort, welches das Gänsemännchen angefangen.
Der Knabe beruhigte sich, und Agnes wurde auch wieder froh.
»Gute Nacht,« rief das Gänsemännchen, »jetzt bin ich wieder ich, und du bist du.«
Es winkte freundlich und verschwand.