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In derselben Nacht, als Daniel über den Flur in seine Stube treten wollte, fiel ihm ein intensiver Blumenduft auf. Schon mehrmals hatte er den Geruch verspürt, nur war er nie so stark gewesen; dazu kam, daß die Jahreszeit eine solche Wahrnehmung doppelt ungewöhnlich machte.
Er schnupperte eine Weile und bemerkte dann, daß im oberen Stock Lenores Kammer offen war. Der Lichtschein drang auf die Stiege.
Wenn Daniel am Abend nicht zu Hause war, öffnete Lenore immer die Tür ihrer Stube, damit sie ihn hören konnte, wenn er heimkehrte. Davon wußte Daniel nichts; er hatte in keiner früheren Nacht den Lichtschein gesehen.
Er besann sich eine Weile, schloß hernach das Gatter wieder auf und ging die Treppe empor. Aber Lenore mußte wohl seinen nahenden Schritt erlauscht haben; sie trat hastig auf den kleinen Vorplatz und sagte befangen: »Bleib unten, Daniel, der Vater schläft. Ist dir's angenehm, so komm ich noch auf eine Viertelstunde ins Wohnzimmer hinunter.«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, ging in die Kammer zurück, holte die Stehlampe und folgte Daniel ins Wohnzimmer. Daniel machte das Fenster zu und schüttelte sich fröstlich, denn es war nicht geheizt und die Nacht war kühl.
»Was ist das für ein Blumengeruch im Hause?« fragte er. »Hast du so viele Blumen oben?«
»Ja, ich habe Blumen,« erwiderte Lenore und errötete.
Er blickte sie scharf an, wollte jedoch nicht weiter forschen, oder es interessierte ihn nicht, zu erfahren, was es bedeutete. Die Hände in den Taschen vergraben, ging er im Zimmer herum.
Lenore hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und ließ den Auf- und Abschreitenden nicht aus den Augen.
»Du, Daniel,« sagte sie plötzlich, und der Wohllaut ihrer Geigenstimme riß ihn aus seinem dumpfen Sinnen, »ich weiß jetzt, was der Vater treibt.«
»Nun also, was treibt er, der Alte?« fragte Daniel zerstreut.
»Er arbeitet an einer Puppe, Daniel.«
»An einer Puppe? Hältst du mich zum besten?«
Lenore, deren Wangen wieder blaß geworden waren, erzählte: »Gestern, gegen Abend, hat er das schöne Wetter benutzt und ist, zum erstenmal nach langer Zeit, spazieren gegangen. Wie er fort war, bin ich in seine Stube hinein, um ein bißchen Ordnung zu machen. Da seh ich, daß die Türe von dem großen Schrank nicht zugesperrt ist wie sonst immer, sondern bloß angelehnt. Wahrscheinlich hat er vergessen, sie zuzusperren. Ich denke mir nichts Arges und mach die Schranktür auf und da seh ich nun eine große Puppe, so groß wie ein vierjähriges Kind vielleicht, ein Wachsgesicht, und die offenen Augen und langes gelbes Haar. Aber keine Kleider; und von dem Leib nur der hintere Rumpf, der vordere Teil vom Hals bis an die Beine war weggenommen. Und im Innern, da, wo bei Menschen Herz und Eingeweide sind, da war ein Gewirr von Rädern und Schrauben und dünnen Röhrchen und Draht, alles aus purem Metall.«
»Sonderbar,« sagte Daniel, »wirklich sonderbar. Was hältst du davon?«
»Er konstruiert etwas,« fuhr Lenore fort, »so viel ist klar. Doch wenn ich dir nur schildern könnte, wie mir dabei zumut gewesen ist, Daniel. Ich war so traurig wie noch nie in meinem Leben. Ich bin mir so lieblos gegen ihn erschienen, wie es das Schicksal gegen ihn war. Und alles, die Luft und das Licht und die Menschen und was man für die Menschen fühlt und was Menschen für einen fühlen, alles ist mir so unbeschreiblich lieblos erschienen, daß ich mich vor die Puppe mit ihrer Maschine im Leib habe hinsetzen müssen und weinen. Der arme Mann! Der arme alte Mann!«
»Sonderbar, wirklich sonderbar,« sagte Daniel immer nur.
Nach einer Weile nahm er schuldbewußt am Tisch neben ihr Platz. Da stand aber Lenore auf, trat zum Fenster und lehnte die Stirn ans Glas.
»Komm zu mir, Lenore,« sagte er mit veränderter Stimme.
Sie kam. Er ergriff ihre Hand und schaute ihr ins Gesicht. »Wie hast du's eigentlich die ganze Zeit her mit dem Haushalt zustande gebracht?« fragte er in der Erleuchtung seines Schuldgefühls.
Lenore senkte die Augen. »Ich hab geschrieben,« erwiderte sie; »und mit dem Blumenbinden hat sich's auch glücklich gefügt. Hab sogar einiges sparen können. Schau mich nicht so an, Daniel; es war nichts Großes, hast mir nichts zu verdanken.«
Er zog sie auf seine Knie und umschlang ihre Schultern. »Du meinst vielleicht, ich hab dich vergessen,« sagte er leidvoll und blickte in die Höhe; »meine Lenore vergessen? meine Geisterschwester? Nein, nein, du liebes, gutes Herz, du weißt ja längst, daß wir unsere Wanderschaft zusammen auf Leben und Tod angetreten haben.«
Lenore lag in seinem Arm, vollkommen weiß im Gesicht, vollkommen starr am Körper. Ihre Augen waren geschlossen.
Daniel küßte ihre Augen. »Du mußt mich halten, auch wenn ich dich scheinbar lasse,« murmelte er.
Dann trug er sie auf den Armen durch die Tür in seine Stube.
»Ich hab mich so gesehnt,« hauchte Lenore, mit den Lippen an seinem Hals.