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Lenore hatte am andern Morgen keinen Gedanken mehr für die Frage übrig, warum Daniel nicht nach Hause gegangen war.
Der Inspektor war eben mit dem Frühstück fertig, als mit Heftigkeit die Klingel gezogen wurde. Lenore ging hinaus, um zu öffnen, und kehrte alsbald mit Herrn Zittel zurück, der sich in ungewöhnlicher Aufregung befand.
»Ich komme, um mich nach Ihrem Sohn zu erkundigen, Herr Inspektor,« fing er an und hüstelte verlegen.
»Nach meinem Sohn?« entgegnen Jordan erstaunt; »ich war der Meinung, Sie hätten ihm für drei Tage Urlaub gegeben.«
»Davon ist mir durchaus nichts bekannt,« sagte Herr Zittel.
»Er ist am Samstagabend nach Bamberg zu seinem Freund Gerber gefahren, um ein Stiftungsfest oder dergleichen mitzufeiern, und wir erwarten ihn erst morgen. Wenn Sie nichts davon wissen, wird ihm wohl Herr Diruf den Urlaub gegeben haben.«
Der Bureauchef preßte die Lippen zusammen. »Können Sie mir die Adresse dieses Herrn Gerber mitteilen?« fragte er. »Ich möchte telegraphieren.«
»Um Gottes willen, was ist geschehen, Herr Zittel?« rief der Inspektor erblassend.
Herr Zittel starrte mit seinen grünglitzernden Augen düster in die Luft. »Am Samstagnachmittag übergab Herr Diruf Ihrem Sohn einen Scheck über dreitausendsiebenhundert Mark mit dem Auftrag, ihn bei der Filiale der bayrischen Bank einzulösen und das Geld mir abzuliefern. Ich hatte Geschäfte und kam an dem Nachmittag nicht mehr ins Bureau. Heute nun, vor einer halben Stunde, frug mich Herr Diruf, ob ich das Geld erhalten habe. Es stellte sich heraus, daß Ihr Sohn sich am Samstag nicht mehr hatte sehen lassen, und da er auch diesen Morgen nicht gekommen ist, werden Sie unsere Unruhe begreiflich finden.«
Der Inspektor reckte sich steif in die Höhe. »Herr, soll das etwa heißen, daß man meinen Sohn einer verbrecherischen Handlung bezichtigt?« donnerte er und drückte die Knöchel der geballten Faust auf den Tisch.
Herr Zittel zuckte die Achseln. »Es ist ja möglich, daß ein Mißverständnis oder eine Nachlässigkeit vorliegt,« antwortete er; »immerhin sind die Umstände bedenklich; man muß rasch eingreifen, und wenn Sie mich im Stich lassen, muß ich polizeiliche Hilfe in Anspruch nehmen.«
Jordans Gesicht wurde fahl. Er suchte an seinen. langen schwarzen Rock aus irgendeinem Grund nach der Tasche. Der Rock hatte keine Tasche, trotzdem fuhr er mit hastigen Fingern zu suchen fort. Er wollte sprechen, aber die Zunge gehorchte ihm nicht; seine Stirn bedeckte sich mit Schweiß.
Lenore umfaßte ihn mit geängstigter Zärtlichkeit. »Ruhig, Väterchen,« redete sie ihm zu, »nur nicht gleich ans Schlimmste denken. Setz dich schön hin und laß uns überlegen.« Sie wischte mit dem Taschentuch seine Stirn ab und hauchte einen Kuß darauf.
Der Inspektor fiel widerstandslos in den Sessel und blickte Lenore voll flehender Spannung in die Augen. Von der ersten Sekunde an hatte sie gewußt, was sich ereignet hatte und was kommen mußte. Aber sie durfte ihm nicht zeigen, daß sie ohne Hoffnung war und bot ihre ganze Kraft auf, um den alten Mann vor dem Zusammenbruch zu bewahren.
Mit Zittels Beistand verfaßte sie eine Depesche an jenen Gerber. Die als dringlich vorbezahlte Antwort sollte an die Generalagentur gelangen, und Lenore sollte zwischen elf und zwölf Uhr dorthin kommen. Sie begleitete Herrn Zittel in den Flur, und der Bureauchef sagte: »Setzen Sie alle Hebel in Bewegung, um das Geld herbeizuschaffen. Wird der Schaden sofort beglichen, so verzichtet Herr Diruf auf eine gerichtliche Verfolgung.«
Lenore wußte aber, daß eine solche Summe schwerlich zustande gebracht werden konnte. Der Vater besaß keine Ersparnisse mehr. Auch hatten seine Arbeitgeber kein Vertrauen mehr zu ihm. Er war keiner Anstrengung mehr gewachsen und der Ruhe bedürftig.
Mit freundlicher Miene betrat sie die Stube und sagte lebhaft: »So, Vater, nun wollen wir abwarten, was Benno antwortet, und damit du dich nicht vergrübelst, les' ich dir was Hübsches vor.«
Auf einem Schemel zu Füßen des Vaters sitzend, las sie ihm aus einer Nummer der »Gartenlaube« die Schilderung einer Montblancbesteigung vor; und dann anderes, worauf gerade ihr Auge fiel. Während ihre helle Stimme einsam durch das Gemach schwirrte, rang sie mit Entschlüssen und lauschte auf den Pendelschlag der Uhr. Daß der Vater ebensowenig wie sie selbst den Sinn des Gelesenen aufnahm, war ihr klar.
Endlich schlug es elf Uhr. Da erhob sie sich und sagte, sie müsse in die Küche, um Feuer zu machen. Es kam an Mittagen sonst eine Bedienerin, die das Essen kochte, diese war noch nicht da. Im Flur riß Lenore ihren Strohhut vom Nagel und flog schnell wie der Wind zu Gertrud hinüber. Daniel war nicht zu Hause; Gertrud schälte Kartoffeln.
Drei Sätze, und Lenore hatte der Schwester alles gesagt. »Geh gleich mit mir und geh hinauf zum Vater,« schloß sie; »acht auf ihn, halt ihn zurück, wenn er fortgehn will, in einer halben Stunde bin ich wieder bei euch.«
Gertrud wurde von Lenore die Stiege förmlich hinuntergezerrt, und eh sie noch eine Frage stellen konnte, war Lenore verschwunden.
In der Generalagentur kam ihr Herr Zittel mit dem geöffneten Antworttelegramm entgegen. Es war von jenem Gerber, Bennos Freund, unterzeichnet und lautete: Benno Jordan ist nicht hier gewesen.
Benjamin Dorn stand hinter Herrn Zittel und trug eine Miene süßlich klagenden Bedauerns zur Schau.
»Herr Diruf läßt Sie bitten, sich zu ihm zu bemühen,« sagte der Bureauchef kalt.
Mit bleichem Gesicht trat Lenore in Dirufs Privatkanzlei. Herr Diruf schrieb an die drei Minuten weiter, ehe er von ihrer Gegenwart Kenntnis nahm. Dann öffneten sich die Pflaumenaugen träge, ein seltsam genußsüchtiges Lächeln huschte blitzschnell unter seinem Schnurrbart hervor, und er sagte: »Der Filou ist also gepurzelt. Nicht wahr?«
Lenore rührte sich nicht.
»Kann die veruntreute Summe binnen vierundzwanzig Stunden ersetzt werden?« fragte der fette und finstere Fürst der Schreiber.
»Mein Vater wird tun, was menschenmöglich ist,« flüsterte Lenore gepreßt.
»Haben Sie die Güte, Ihrem Vater auszurichten, daß ich morgen Mittag um zwölf Uhr die Anzeige erstatten werde, wenn bis dahin die dreitausendsiebenhundert Mark nicht an meine Kasse bezahlt sind.«
Lenore eilte nach Hause. Nun mußte der Vater aufgerüttelt werden. Gertrud und der Inspektor saßen in einem furchtbaren Schweigen beieinander. Lenore enthüllte das nicht mehr zu verbergende Unglück.
»Mein guter Name,« stöhnte Jordan gemartert.
Vor der Schande mußte er sich retten. Die gewährte Gnadenfrist erschien ihm als ein sicheres Mittel zur Rettung. Er zweifelte nicht, daß er dienstbereite Freunde finden würde, denn er hatte ja etwas, worauf er pochen konnte: eine makellose Vergangenheit und den Ruf eines zuverlässigen Mannes.
So sagte er sich; und als er einmal den Entschluß gefaßt hatte, die Dienste der Freunde, deren er sicher zu sein wähnte, aufzurufen, schien ihm auch der schwierigste Teil seines Vorhabens überwunden. Das Leiden, zu dem ihn der tödlich getroffene Stolz, die enttäuschte und zertretene Vaterliebe verurteilte, hatte er allein zu tragen; das stand auf einem Blatt für sich.
Und er ging aus, sich an die Freunde zu wenden.