Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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2

Als Herr Carovius allein war, las er die Berichte über eine Grubenkatastrophe in Schlesien. Die Anzahl der Toten befriedigte ihn. Die Schilderung, wie die Ehefrauen der vermißten Bergleute um den Schacht standen und weinend die Namen ihrer Gatten riefen, verursachte ihm jenes angenehme Gruseln, das er ebensosehr liebte wie den schwermütigen Schluß eines Chopinschen Nokturnos.

Doch konnte er den Blick nicht vergessen, mit dem der Apotheker Pflaum davon gesprochen hatte, daß Daniel Nothafft seine Frau vernachlässige. Es war ein Blick gewesen, der gleichsam durch den Spalt zwischen den Gardinen eines Schlafzimmers drang. Da ging etwas vor, da ging etwas vor.

Ziemlich lange schon hegte Herr Carovius den Argwohn, daß da etwas vorging. Zweimal war er Daniel und Lenore in der Dämmerungsstunde auf der Straße begegnet und sie hatten in einer ganz besonderen Art miteinander geplaudert. Da ging etwas vor. Es spielten sich hinter dem Rücken des Herrn Carovius Ereignisse ab, die er nicht außer acht lassen durfte.

Seit jenem Tag, wo ihm Lenore das Kettchen seines Zwickers vom Mantelknopf losgenestelt hatte, war ihm das Bild des jungen Mädchens unverwischbar eingeprägt. Noch jetzt sah er die Wölbung ihres jungen Busens vor sich, als sie den Arm aufgehoben hatte.

Anderthalb Jahre nach diesem Vorfall war es gewesen, daß er unter den Papieren Eberhards von Auffenberg einen an Lenore Jordan gerichteten, nicht abgeschickten und nicht beendeten Brief gefunden hatte. Eberhard war wegen der Verhandlungen über ein neues Darlehen nach Nürnberg gekommen, er hatte sein Hotelzimmer verlassen und Herr Carovius hatte lange auf ihn warten müssen. Diese Wartezeit hatte er benützt, um die unverschlossenen Schriftstücke des nicht sehr sorgsamen Freiherrn zu durchstöbern.

Da hatte er den Brief entdeckt. Welche Worte! welche Leidenschaft! Nie und nimmer hätte Herr Carovius dem pedantischen Griesgram solche Gefühlsmacht zugetraut. Ihm war, als habe sich ihm Eberhards verborgenste Herzenskammer aufgetan. Er war erbebt in der Wollust, die ihm das enthüllte Mysterium dieser Seele bereitete. Sie sind auch Menschen, die da oben, triumphierte er, sie werfen sich weg, sie fallen auf eine glatte Fratze herein, sie verlieren ihre Haltung beim Rascheln eines Unterrocks.

Was aber den Freiherrn anging, das ging auch Herrn Carovius an. Eine Leidenschaft, die den Freiherrn erfüllte, mußte von Herrn Carovius bewacht, verstanden und am Ende auch geteilt werden.

Die Einsamkeit hatte Herrn Carovius allmählich aus dem Gleichgewicht gebracht. Verdrängte Triebe überwucherten seinen Geist. Die abenteuerlichen Geschäfte, in die er sich gestürzt, um sich der Gewalt über Eberhard zu versichern, hatten ihn nahezu ruiniert; das Netz, das er für den hilflos flatternden Vogel geflochten, hielt ihn selber umstrickt. Die Welt war ihm wie eine Haut voll Wunden, an denen sich seine neronischen Begierden stärkten; doch sie war ihm auch wie ein Teppich mit bunten Bildern, die lebendig und wirklich zu machen er die Zauberformel noch nicht gefunden hatte.

Bei den Andeutungen des Apothekers richteten sich alle seine Stacheln auf. In ihm verjährte kein Gefühl, in ihm verlosch kein Gelüst. Als er sich zu Hause zu einem Mittagsschläfchen aufs Sofa legte, tänzelte die Gestalt Lenores in reizender Verkleinerung vor seinen Augen herum. Als er am Klavier saß und Etüden spielte, stand Daniel Nothafft daneben und rügte hochmütig seinen Fingersatz. Als er am Abend aus dem Tor trat, war auf allen Ladenschildern der Namen Nothafft zu lesen, und jedes Frauenzimmer hatte Lenores Züge.

Es schien ihm auf einmal, als ob Lenore Jordan sein Eigentum sei, als ob er ein Anrecht auf sie habe. Sein Leben dünkte ihn in bemitleidenswerter Weise entbehrungsvoll. Andere hatten alles und er hatte nichts. Andere verübten Verbrechen, und sein Los war es, die Verbrechen zu notieren. Man wurde nicht satt und nicht reich davon, wenn man die Verbrechen der andern notierte.

Um Mitternacht stellte er sich im Schlafrock vor den Spiegel und bis zum Morgengrauen las er in einem Roman, in dem ein Herr von fünfzig Jahren bei einer jungen Dame ein verschwiegenes Liebesglück findet. Dabei war er sich fortwährend bewußt, daß etwas vorging. Draußen in der Welt, in einem gewissen Haus am Egydienplatz ging etwas vor.

Er sah Zusammenkünfte auf finstern Stiegen, Verständigungen durch Händedrücke und ehebrecherische Signale. So machten sie es ja, so hatten Benda und Margaret es gemacht. Alter Haß wurde neu. Er trug seinen Haß in die Musik, aber auch seine Hoffnung. Die Musik sollte ihm eine Brücke schlagen zu Daniel und Lenore; er wollte ihnen seine Einsicht schenken, seine Kniffe, seine Erfahrungen, nur um dabei zu sein, wenn sie das Schauerliche begingen; nur um nicht hinter der Wand stehen zu müssen, von wesenloser Eifersucht gequält, um mitleben zu können, das Auge zu füllen, die Hand auszustrecken, die leere, die altwerdende Hand.

Ich bin, sagte er sich, vom selben Fleisch und Blut wie jener; auch in mir ist Wolfgang Amadeus Mozart. Wohl habe ich die Weiber verachtet, sagte er sich, denn verächtlich sind sie. Tritt mir aber eine in den Weg, die zu was Besserm taugt als die Zahl der ohnedies schon wimmelnden Idioten um zwei oder drei zu vermehren, so will ich Buße tun und ihr Ritter sein.

Er schlief nicht mehr und aß nicht mehr und wußte nichts Vernünftiges mit sich anzufangen. In einer verspäteten Wut des Geschlechts, einer zweiten Pubertät, erhitzte sich seine Phantasie an einem Bildnis, das er mit allen Vollkommenheiten des Leibes und der Seele schmückte.

Da hörte er, daß ein Werk Daniels im Hause der Freiin von Auffenberg vor geladenen Gästen aufgeführt werden sollte. Er telegraphierte an Eberhard und verlangte, dieser möge ihm zu einer Einladung verhelfen. Die Antwort lautete abschlägig. In seiner Wut hätte er den Postboten beinahe mißhandelt. Sodann schrieb er an Daniel, und indem er auf seine Teilnahme für dessen Schaffen pochte, bat er, unter den Zuhörern sein zu dürfen. Er bekam nun ein gedrucktes Kärtchen, worin die Freifrau die Hoffnung äußerte, ihn an einem bezeichneten Tag bei sich begrüßen zu können.

Er war im siebenten Himmel. Er beschloß, Daniel einen Besuch abzustatten und ihm zu danken.


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