Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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7

Daniels Geldvorrat ging zu Ende. Die neuen Quellen, auf die er gehofft, waren nicht zu entdecken. Er verschloß sich trotzig der Sorge, und wenn Furcht sich melden wollte, fand er bei den Brüdern Vergessen.

Der Bildhauer Schwalbe hatte die Bekanntschaft der Zingarella gemacht, die in den Reichshallen schlüpfrige Couplets sang. Er lud die Brüderschaft ein, ihn zu begleiten.

Die Reichshallen waren ein Rauchtheater niedrigster Sorte. Als sie hinkamen, war die Vorstellung schon zu Ende. An vielen Tischen saßen noch Leute. Der von abgestandenem Bierdunst erfüllte Raum glich einem düstern Schacht.

Mit einer Gleichgültigkeit, als ob Menschen in ihren Augen um nichts besser als Stühle seien, nahm die Zingarella zwischen dem Bildhauer und dem Schriftsteller Platz. Sie lachte, und es war kein Lachen; sie redete, und die Worte waren leer; sie streckte die Hand aus, und die Gebärde war tot. Sie schaute keinen an, ihr Blick streifte nur. Sie hatte eine Art, mit dem Armband zu rascheln, die Mitleid erweckte, und eine andere, nach platten Roheiten, die sie geäußert, den Kopf wegzuwenden, die den Rohesten stutzig machte. Ihr Gesicht war von der Schminke verdorben, aber unter der Haut schimmerte etwas wie Wasser unter dünnem Eise.

Den verwüsteten Mund hielt gewesene Anmut noch in wehem Bogen.

Bisweilen war ihr ruheloses Auge böse spähend auf Daniel gerichtet, der einsam an der unteren Schmalseite des Tisches saß. Um das Grauenvolle seiner hochmütigen Fremdheit nicht spüren zu müssen, hätte sie viel darum gegeben, wenn ihn einer vor ihre Füße geworfen hätte. Sie sah, daß er kein Weib kannte. Dieses quälte sie so, daß sie mit den Zähnen knirschte.

Daniel fühlte den Haß der Zingarella nicht. Während er beklommen in ihr Gesicht starrte, welches vom Laster und vom Schicksal gezeichnet war, baute er innerlich ein Gebilde von unnennbarer Keuschheit, Gespielin eines Gottes. Der Vorhang mit der gemalten Harlekinsfratze, der Akrobat und der Hundedresseur am Nebentisch, die über Gagen stritten, vier halbwüchsige Kartenspieler hinter ihm, ein dickes Weib, das auf einer Bank lag und mit einem roten Taschentuch über den Augen schlummerte, der Schriftsteller, der über andere Schriftsteller schimpfte, der Erfinder, der vom Perpetuum mobile erzählte, das alles war plötzlich versunken wie in die Tiefe des Meeres. Er stand auf und ging fort.

Aber als er die schneebedeckte Straße vor sich sah und nicht wußte, ob er sich nach Hause wenden sollte, trat die Zingarella an seine Seite. »Rasch,« flüsterte sie, »eh sie merken, daß wir beisammen sind.« Und so gingen sie wie zwei Flüchtlinge, die nichts voneinander wissen, als daß sie beide arm und elend sind, durch das nächtliche Schneegestöber.

»Wie heißen Sie?« fragte Daniel.

»Anna Siebert heiß ich.«

Vom Turm der Lorenzerkirche schlug es drei Uhr. Der Sebalderturm bestätigte es mit tieferem Schlag.

Sie kamen an ein altes Haus und gelangten über einen modrig riechenden, finstern Gang in einen kellerartigen Raum. Anna Siebert zündete eine Ampel an, die rote Scheiben hatte. An einigen Nägeln hingen bunte Gewänder der Soubrette, auf der Tischdecke lag eine graue Katze und spann. Das Mädchen nahm sie auf den Arm und liebkoste sie. Die Katze hieß Zephir. Sie begleitete Anna Siebert überallhin.

Daniel warf sich auf einen Sessel und blickte in die Ampel. Die Katze Zephir streichelnd, stand die Zingarella vor dem Spiegel an der Wand, und ohne sich selbst zu gewahren, nur ins Öde des Spiegels schauend, erzählte sie, der Direktor habe ihr heute gekündigt, weil das Publikum mit ihren Leistungen unzufrieden sei.

»Nennt man das Publikum,« fragte Daniel, der seine Augen nicht von der Ampel wandte, so wie sie die ihren nicht von der Öde des Spiegels, »diese Familienväter, die Seitensprünge machen, die Ladenschwengel, deren Blicke euch die Kleider vom Leib reißen, diesen Menschen-Unflat, vor dem Gott sein Angesicht verhüllt, nennt man das so?«

»Der Direktor kommt in meine Garderobe,« fuhr Anna Siebert tonlos fort, »wirft mir den Kontrakt hin und schreit, ich hätte ihn beschwindelt. Wie soll ich ihn denn beschwindelt haben? Ich bin ja keine erste Kraft mehr, der Agent hat's ihm ja gesagt. Für zwanzig Mark wöchentlich kann man nicht wie die Patti singen. In Elberfeld hab ich fünfundzwanzig gehabt, vor einem Jahr, in Zürich, noch sechzig. Jetzt behauptet er, er braucht mir gar nichts zu zahlen. Wovon soll ich aber leben? Man muß doch leben. Was, Zephir?« flüsterte sie der Katze schmeichelnd zu und drückte die Wange auf das Fell, »man muß doch leben.«

Sie ließ die Arme fallen, das Tier sprang auf die Erde und buckelte. Das Mädchen trat zu Daniel, sank auf die Knie und legte die Stirn auf seinen Schenkel. »Ich bin am Ende,« murmelte sie kaum hörbar, »am Ende von allem.«

Der Schnee prasselte an die Fensterscheiben. Mit einem Ausdruck, als ob seine Gedanken einander mordeten, blickte Daniel in die Ecke, aus welcher die Katze Zephir mit gelbglühenden Augen herüberblinzte. In seinem Gesicht bebten die Muskeln, wie Fische beben, wenn man sie von der Angel reißt.

Und als er so kauerte, die Arme an den Leib gepreßt, die Schultern geduckt, kam es wieder empor aus der Tiefe des Meeres: Zuerst ein hinstürmendes Arpeggio in As-Dur, und darüber, Ruhe gebietend, ein majestätisches Thema in Sechzehntel-Dreiklängen. Mit einem Septakkord in Forte stürzten sie zusammen. Ein Ringen, ein Scheiden, ein Weiterwandern, und aus dem gedämpften Pianissimo schwebte die sanfte Stimme in Es-Moll auf. O Stimme! O Menschheit! Die Achtel, in ihrer unerbittlichen Wucht, schritten tiefer, wühlender in den Baß, hoheitsvoller trug es die gelöste Stimme in den Es-Durakkord, und nun wurde alles wahr! Was Schatten und Traum und Sehnen und Wollen gewesen, wurde wahr. Er selbst wurde wahr.

Auf dem Heimweg deckte er die Hand über das Gesicht, denn die Fenster der Häuser blickten ihn an wie die leeren Augen einer Dirne.


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