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Im Dezember hatte Daniel kein Geld mehr, und er mußte die Partitur der Bachschen H-Moll-Messe verkaufen, die einzige Kostbarkeit, die er besaß. Der Kantor Spindler hatte sie ihm beim Abschied geschenkt, und jetzt mußte er sie zum Antiquar tragen und für ein Bettelgeld dahingeben.
Wenn er nicht den ganzen Tag im Bett liegen wollte, mußte er, um sich warm zu halten, durch die Straßen laufen. In eine Wirtschaft zu gehen, verwehrte ihm seine Armut, und deshalb kam er auch nicht mehr mit den Brüdern vom Jammertal zusammen. Deshalb und auch, weil ihm vor den Leuten ekelte.
Eines Abends stand er vor der Egydienkirche und lauschte der Orgel, die drinnen gespielt wurde. Der eisige Wind blies in seine Rockärmel. Als das Orgelspiel aufhörte, ging er über den Platz und lehnte sich an die Mauer eines Hauses. Er fühlte sich sehr einsam.
Da kamen zwei Männer daher, die in das Haus gehen wollten, an dessen Tor er frierend stand. Der eine der beiden war Benjamin Dorn, der andere war der Inspektor Jordan. Benjamin Dorn redete ihn an, der Inspektor stand schweigend daneben, während Daniel unfreundliche Antworten gab, und er schien den Zustand des jungen Menschen lebhaft zu erfassen. Er lud Daniel ein, mit hinaufzukommen, und Daniel folgte, bis ins Mark durchkältet und an nichts weiter denkend als an einen warmen Ofen.
So kam er in die Familie des Inspektors. Inspektor Jordan hatte drei Kinder, die neunzehnjährige Gertrud, die siebzehnjährige Lenore und den fünfzehnjährigen Benno, der noch das Gymnasium besuchte. Seine Frau war tot.
Von Gertrud hieß es, daß sie eine Frömmlerin sei. Sie ging täglich in die Kirche und hatte eine heimliche Neigung für die katholische Religion, worüber der Inspektor, als überzeugter Protestant, sehr betrübt war. Tagsüber versorgte sie den Haushalt, und wenn sie damit fertig war, saß sie an ihrem Stickrahmen und stickte Dornenkronen, von Schwertern durchstochene Herzen und schmächtige Engel für eine überseeische Mission. Schweigend und mit immer gesenkten Augen saß sie und stickte.
Als Daniel sie zuerst sah, trug sie ein laubgrünes Kleid, das über den Hüften mit einem geschuppten Gürtel befestigt war, und ihre braunen, stark gewellten Haare lagen offen auf den Schultern. So sah er sie dann stets, wenn er ihrer gedachte, auch nach vielen Jahren so, im laubgrünen Kleid, mit niedergesenkten Blicken, am Stickrahmen arbeitend und seiner Gegenwart feindselig nicht achtend. Sie war wie etwas Finsteres im hellen Raum.
Anders Lenore. Sie war wie eine Lampe, die durch finstere Räume getragen wird.
Seit dem Sommer war sie in der Generalagentur der Prudentia angestellt, denn sie wollte sich ihr Leben verdienen. Ihren Worten nach zu schließen bereitete ihr die Arbeit dort Spaß. Ihren Worten nach zu schließen belustigte es sie, Prämienquittungen zu schreiben, Briefmarken aufzukleben, Briefe zu kopieren und viele Leute kommen und gehen zu sehen. Der fette Generalagent Diruf und der magere Bureauchef Zittel gaben ihr Stoff zur Verwunderung, und wenn trübe Laune heranschleichen wollte, drehte man sich auf der Schraube des Sessels im Karussell, und alles war wieder gut.
Sie schien ein Kind zu sein und war doch ganz Jungfrau. Auf dem blonden Kopf trug sie das runde Pelzkäppchen in vergnügter Schiefheit, und wenn sie ins Zimmer trat, war irgend etwas in der Atmosphäre verändert, so daß sie frischer und angenehmer zu atmen war. Die Leute mißbilligten es, daß ihre Augen so strahlend blau waren und daß die erstaunlich geordnete Reihe weißer Zähne beständig hinter den pfirsichhaft weichen Lippen blitzten. Sie sei ein leichtes Blut, sagten die Leute; sie sei ein Schmetterling, sagten sie, und Benjamin Dorn nannte sie eine vom Teufel der Sinnlichkeit besessene Kreatur, die an Putz und irdischem Tand ihr Genügen finde. Es herrschte zwischen ihr und dem jungen Freiherrn von Auffenberg seit kurzem eine Beziehung vertrauter Art; niemand wußte Genaues darüber; aber als der Schnüffler Benjamin Dorn, der zwei Menschen verschiedenen Geschlechts nicht beisammen sehen konnte, ohne sich mitschuldig zu fühlen an der großen Erbsünde, sie eines Tages in Gesellschaft des Freiherrn erblickte, war sie in seinen Augen eine Verlorene.
Es war mit Lenore so bestellt: das Leben kam ihr niemals ganz nah. Andern kommt es dicht an den Leib, andere würgt es und schleift es hin, ihr blieb es fern, denn sie stand in der Mitte einer gläsernen Kugel. Wenn sie Kummer hatte, wenn schmerzlich unentschiedenes Gefühl an ihr nagte, wenn die Gemeinheit einer niedern und verstörten Welt zu ihr herauflangte, da wurde die gläserne Kugel nur noch weiträumiger, und die Dinge, die an ihrer Peripherie schwirrten, noch ungreifbarer.
Man kann immer lächeln, wenn man in einer gläsernen Kugel steht. Auch die bösen Träume bleiben draußen, sogar die Sehnsucht ist nur wie rosiger Hauch, der das Kristall des Gehäuses von außen umdunkelt.
Die Leute hatten eigentlich recht, wenn sie sagten: der Inspektor Jordan erzieht seine Töchter wie Prinzessinnen. Beide waren der Gewöhnlichkeit des Lebens entrückt, die eine ins Finstere, die andere ins Helle.
Und Daniel sah beide; sie waren ihm fremd wie er ihnen. Er sah auch den Bruder, einen flinken, glatten, hochaufgeschossenen Jüngling. Er sah das alte Haus mit seinen morschen Stiegen und die Stuben mit ihren wuchtigen Bürgermöbeln, und den Wechsel von Ruhe und Unruhe darin, das kleine, ungewisse, hinaus- und zurückfließende Leben, und wenn er kam, unterhielt er sich nur mit dem Inspektor, da er die Stunde wußte, in der dieser zu Hause war. Sie sprachen unverbindlich und allgemein; Daniel war verschlossen und der Inspektor voll Takt. Und Gertrud saß am Tisch und stickte.
Er kam und wärmte sich am Ofen. Bot man ihm ein Butterbrot an oder eine Schale Kaffee, so schlug er es aus. Drängte man ihn, es doch zu nehmen, so schüttelte er den Kopf und machte ein Gesicht wie ein böser Affe. Daran war sein Bauerntrotz schuld, die ungroßmütige Angst, irgend jemand etwas verdanken zu müssen, und als die Not überwältigend wurde, kam er plötzlich überhaupt nicht mehr.