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Daß zwei so grundverschieden geartete Naturen wie Eberhard und Daniel eben zu der Zeit, wo beide freiwillig auf den Verkehr mit Menschen verzichtet hatten, einander begegneten und näher traten, beruhte auf einer jener Fügungen, die ein Gesetz der Kristallisation oder der Anziehung polarer Kräfte enthalten, so zufällig sie auch scheinen.
Das Zusammentreffen ereignete sich am Tag nach jener Wanderung, die Daniel nach Eschenbach unternommen hatte. Als der Morgen anbrach, hatte er sich entschlossen, den Rückweg über Schwabach einzuschlagen, sowohl der Abwechslung wie der geringeren Dauer wegen. Die Sonne brannte noch sengender vom Himmel als am Tag vorher und in den Stunden der größten Glut legte sich Daniel in den Wald. Wie er nun spät am Nachmittag in die Nähe von Schwabach kam, zogen schwere Wolken von Westen herauf, ein unheilverkündender Sturm begann zu wehen, Blitze zuckten über das finstere Firmament, und so sehr auch Daniel seinen Schritt beschleunigte, das Wetter überfiel ihn doch: ehe er den Schutz eines Hauses erreichte, war er am ganzen Leibe naß.
Es goß in Strömen weiter; nach langem Harren mußte er in den Regen hinaus und, vor Nässe und Kälte schlotternd, gelangte er auf den Bahnhof. Als er das Billett nehmen wollte, stand am Schalter vor ihm ein hagerer, apart gekleideter Mann. Daniel mochte sich wohl in seinem Ärger und Unbehagen zu hart an ihn gedrängt haben, denn der Herr wandte sich unwillig um, und Daniel erkannte den jungen Freiherrn in ihm. Eberhard seinerseits erkannte auch Daniel sofort. Es gab nicht leicht ein Gesicht, das so sehr nur einem einzigen Menschen gehören konnte wie das Daniels.
Was den Freiherrn nach Schwabach geführt hatte, war die Anhänglichkeit an einen bestimmten Menschen, die er sich seit seiner Kindheit bewahrt hatte. Es lebte dort seine Amme, eine Frau, die ihm von jeher mit rührender Liebe ergeben war, die stolz auf ihn war, als hätte sie in ihm das erlesenste Exemplar der Männerwelt an ihrer Brust gesäugt, und an deren Märchen und Geschichten er sich noch jetzt oft und gern erinnerte. Sie hatte den Werkführer einer Zinngießerei geheiratet, besaß nun selber schon Söhne und Töchter, und Eberhard hatte sich seit Jahren vorgenommen, sie einmal zu besuchen. Dies war nun geschehen. Er hatte nicht viel Freude davon gehabt, er mußte sich sagen, daß ihm der Besuch eine innere Gestalt geraubt hatte, und ob die Amme bei dem Anblick des grämlichen, steifen und hochaufgeschossenen Milchsohnes das Entzücken empfunden, das sie sich ausgemalt, bleibe dahingestellt.
Als Eberhard den Zustand gewahrte, in welchem sich Daniel befand, regte sich sein ritterliches Gefühl. Tapfer besiegte er eine Abneigung, die so alt war wie sein Wissen von diesem Mann, und der sich vor wenigen Wochen Abscheu und quälende Eifersucht beigesellt hatten. »Sie sind ins Unwetter gekommen?« fragte er höflich, obschon in strenger und abweisender Haltung.
»Wie Sie sehen,« antwortete Daniel kurz und musterte den Freiherrn mit gerunzelter Stirn.
»Sie werden sich erkälten, darf ich Ihnen nicht meinen Mantel anbieten?« fuhr Eberhard noch höflicher fort, und es war ihm, als tauche hinter Daniel Lenores Antlitz auf, von Blumen umgeben, und lächelte ihm freudig und dankbar zu. Er preßte die Lippen zusammen und verfärbte sich.
Daniel schüttelte den Kopf. »Ich bin an allerlei Wetterstürze gewöhnt,« gab er zurück; »danke.«
»So wickeln Sie wenigstens das hier um den Hals; das Wasser läuft Ihnen ja von den Haaren herunter.« Und Eberhard reichte ihm ein weißes Seidentuch, das er aus der Tasche seines Mantels zog. Daniel machte eine Grimasse, nahm aber das Tuch, schlang es um den Nacken und band einen Knoten unter dem Kinn.
»Sie haben recht,« gestand er dann und zog den Kopf zwischen die Schultern, »es erinnert einen gleich an ein warmes Bett.«
Eberhard starrte gegen die Lokomotive des einfahrenden Zuges. Plebejer, dachte er geringschätzig.
Gleichwohl setzte er sich zu diesem Plebejer ins Kupee dritter Klasse; und er hatte ein Billett erster Klasse gekauft. War es das weißseidene Tuch, das ihn plötzlich an den Plebejer fesselte? Was konnte es anders sein, da sie während der ganzen Fahrt einander schweigend gegenüber saßen, ein höchst wunderliches Paar, der eine im armseligen, feuchtglänzenden Anzug, einem Hut, der halb an einen Tünchermeister, halb an einen zigeunernden Barden gemahnte und einer Riesenbrille, aus der die Augen grün und flackrig blitzten; der andere wie aus dem Ei geschält, stäubchenlos, in Lackstiefletten, englischem Strohhut und einer amerikanischen Zigarette im Mund.
Daneben saß eine Bäuerin mit einem Geflügelkorb, ein rothaariges Mädchen, welches das Hinterteil eines Schweins auf den Knien hielt und ein Arbeiter, dessen Gesicht verbunden war.
Bisweilen trafen sich ihre Blicke. Dann senkte der Freiherr erschreckt die Lider, und Daniel schaute gelangweilt in den Regen hinaus. Aber es mußte irgendeine Mitteilung oder Verständigung in der kurzen Begegnung der Blicke verborgen gewesen sein, denn als sie am Ziel ihrer Reise das Kupee und den Bahnhof verlassen hatten, schritten sie friedlich nebeneinander durch die Straßen, wie wenn es sich von selbst verstehe, daß sie jetzt beisammen blieben.
Der Mensch sucht den Menschen. Da hilft kein Trotz und keine Verschlossenheit, da ist etwas, das den Stärksten zwingt, wenn er einen spürt, der willig ist, sich zu geben, und das geglaubte Genügen an der Einsamkeit enthüllt sich als Selbstbetrug.
»Sie werden wohl nach Hause gehn und sich umkleiden,« sagte Eberhard und blieb an einer Straßenkreuzung stehen.
»Ich bin schon trocken,« antwortete Daniel, »und zum Heimgehn hab ich keine Lust. Da drüben an der Insel Schütt ist ein kleines Gasthaus, nennt sich zum Peter Vischer. Ich mag's gern, weil bloß alte Leute drin verkehren, die von alten Zeiten erzählen und weil's auf einer Brücke liegt, so daß man in einem Schiff zu schwimmen meint.«
Eberhard ging mit. Sie saßen von acht Uhr bis Mitternacht einander gegenüber. Ihre Unterhaltung beschränkte sich auf Wendungen wie: »Es ist wirklich recht angenehm still hier.« – »Es scheint, der Regen hat aufgehört.« – »Ja, er hat aufgehört.« – »Der weißbärtige Schwätzer am Ofen ist ein Uhrmacher vom Unschlittplatz.« – »So? er sieht noch recht rüstig aus.« – »Er soll die Schlacht bei Wörth mit gemacht haben.« Und dergleichen mehr.
Als sie sich trennten, wußte Eberhard, daß Daniel am nächsten Mittwoch wieder beim Peter Vischer sein, und Daniel, daß er den Freiherrn dort finden werde.