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Beim Tode ihrer Mutter war Gertrud Jordan neun Jahre alt gewesen. In der Nacht war sie in das Sterbezimmer geschlichen und hatte drei Stunden am Lager der Toten zugebracht. Vielleicht war es seit jener Nacht, daß sie sich der Welt und den Menschen verschlossen hatte. Als sie von dannen ging, hob die Uhr zum Schlag aus, und in der Ferne krähte ein Hahn.
Warum tickst du, Uhr? fragte sie laut, warum krähst du, Hahn? Und wieder: wer läßt dich ticken, Uhr, wer läßt dich krähen, Hahn?
Sie wuchs auf, und niemand wußte eigentlich etwas von ihr. Selbst ihr Vater konnte ihr nicht nahe kommen und wußte nicht, wie sie in ihrem Innern beschaffen war. Sie verkehrte nicht mit Altersgenossinnen. Ihr dunkler Blick erglühte zornig, wenn sie das sinnlich-sinnlose Gelächter der Mädchen vernahm.
Bei der ersten Kommunion stürzte sie zusammen und wurde ohnmächtig weggetragen. Jordan brachte sie nach Pommersfelden zu seiner Schwester, der Bezirksarztenswitwe Kupferschmied. Nach einer Woche kehrte sie allein zurück und in zerrütteter Gemütsverfassung. Sie hatte zugesehen, wie ein Kalb geschlachtet worden war. Dieser Anblick hatte sie beinahe wahnsinnig gemacht.
Von ihrem fünfzehnten Jahr an hatte sie es durchgesetzt, daß sie eine eigene Kammer zum Schlafen erhielt. Als sie sechzehn alt war, begehrte sie, daß die Magd entlassen werde, und nun kochte sie selbst und führte die Wirtschaft. War sie mit den häuslichen Arbeiten fertig, so setzte sie sich an ihren Stickrahmen.
Benjamin Dorn war durch ihren Vater ins Haus gekommen. Daß Lenore sich über ihn lustig machte, nahm sie für ihn ein. Er erschien ihr nicht als Mann, er erinnerte sie an die schmächtigen Engel, die sie stickte. Er brachte ihr seine Traktate und Erbauungsschriften, aber sie verstand die Sprache nicht. Dann führte er sie zu den Zusammenkünften der Methodisten, aber die geräuschvolle Zerknirschung ängstigte sie, und nach wenigen Malen war sie nicht mehr zu bewegen, hinzugehen. Er empfahl ihr das Lesen der Bibel, aber sie vermochte auch in der Bibel nichts zu finden, was sie hätte beruhigen können. Ihr war es, als habe sie eine Wunde in ihrem Innern, die beständig blutete und sich niemals schloß. Als sie sich längst von Benjamin Dorn und seiner billigen Frömmigkeit abgewandt hatte, war dieser noch immer der Meinung, sie habe acht auf ihn und schaue zu ihm empor. Doch wußte sie es einzurichten, daß er nur selten mit ihr sprechen konnte.
Der Gottesdienst in der protestantischen Kirche erschien ihr wie eine Versammlung von Händlern, die, anstatt wie an Wochentagen untereinander, an Sonntagen mit dem Himmel ein Geschäft abschließen. Sie vermißte die Würde, bei den Predigten wurde sie nicht warm, die Zeremonien stimmten sie nicht andächtig.
Nirgends und von keinem Menschen vernahm sie ein nachhallendes, ein erleuchtendes Wort. Es war die Nüchternheit einer ganzen Zeit, die sie bis in die Adern hinein spürte, die Verflachung einer ganzen Welt. Und wenn sie ihr Herz wärmen wollte, wenn sie sich fürchtete vor der öden Luft und dem öden Tag, ging sie heimlich in die Frauenkirche oder in die Sankt Josephskirche, wo man den Raum Gottes feierlicher schmückte, wo viele Lichter angezündet waren, die Gebete geheimnisvoller klangen, der Priester ergriffener schien, der Andächtige schaudern konnte.
Und doch haßte sie alles äußerlich Schöne, haßte sogar die schöne Natur als ein den Menschen zur Verlockung und zur Betörung Hingesetztes. Liebte auch nichts an ihrer eigenen Person, weder ihr Gesicht, noch ihre Stimme; erschreckend war ihr die eigene tiefe Stimme; weder ihre Haare, noch ihre Hände.
An einem Winterabend warf sie einen goldenen Ring, der aus dem Nachlaß der Mutter stammte, und den ihr der Vater gegeben hatte, in den Brunnenschacht. Dann beugte sie sich hinüber und sah in die Finsternis hinab wie von einer Bürde befreit.
Oftmals wollte Lenore der Schwester vertrauend nahen und fühlte sich immer zurückgestoßen. Wenn auch Gertrud wenig mit Menschen sprach, so gelangte doch alles Gerede zu ihr, das über Lenore ging, und sie schämte sich für die Schwester. Sie mochte Lenore nicht mehr anschauen, sie faßte einen Widerwillen gegen sie und konnte sich kaum entschließen, ihr den Gruß zurückzugeben. Der Verirrten Vorhaltungen zu machen, dazu fehlte ihr das Wort, sie war des Wortes nur in geringem Grade mächtig, sie mußte alles in sich hineinwürgen, Unrecht und Schmerz. So härmte sie sich um Lenores willen und wurde zugleich immer erregter und wilder, als locke sie etwas am Tun der Schwester, und sie konnte häufig keinen Schlaf finden.
Ihre Unruhe war so groß, daß sie nicht lange mehr am Stickrahmen sitzen blieb und überhaupt keine Arbeit mehr richtig zu Ende brachte. Es trieb sie hinaus, und war sie draußen, so trieb es sie wieder heim. Das Herz klopfte ihr, wenn sie allein im Zimmer war, und war der Vater oder der Bruder oder Lenore da, so hielt sie deren Gegenwart nicht aus und flüchtete in ihre Kammer. Wenn es heiß war, schloß sie die Fenster, wenn es kalt war, lehnte sie sich hinaus. Wenn es still war, wurde ihr bange, wenn es laut war, sehnte sie sich nach Ruhe. Sie hatte kein Gebet, es war alles so dumpf in ihr, sie spürte die Verkettungen der Stunde als etwas Grausames, sie wünschte Jahre überschlagen zu können, wie man viele Seiten eines quälenden Buches überschlägt, und wußte sie keinen Ausweg mehr, so eilte sie in die Frauenkirche und warf sich vor den Altar hin und blieb regungslos, das Gesicht verhüllt, bis die Seele wieder stiller war.
Es drängte sie zu Lenore hin, sie konnte sich nicht dagegen wehren, nicht bloß, weil sie wachsam sein und Unheil verhüten wollte; es war etwas Schauriges, eine grauenvolle Neugier, und bisweilen folgte sie der Schwester heimlich und sah einmal von ferne, daß sie mit einem Manne ging, der auf sie gewartet hatte. Da vermochte sie sich nicht mehr von der Stelle zu rühren, und Lenore gewahrte sie.
Am andern Tag aber kam Lenore von selbst zu ihr und sprach mit anmutiger Offenheit über ihre Beziehung zu Eberhard von Auffenberg. Was sie von seinem Schicksal wußte, darüber schwieg sie; sie deutete nur an, daß er sehr unglücklich sei. Sie erzählte, wie sie ihn im vorigen Winter beim Eisfest auf dem Dutzendteich kennen gelernt; wie er an ihr hänge, wie zart und rücksichtsvoll er sich stets gegen sie betragen habe, wie gern sie ihm Freundschaft erweise und wie sehr er ihrer Freundschaft bedürftig sei.
Darauf schwieg Gertrud lange, endlich sagte sie mit jener tiefen Stimme, die klang, als ob sie aus Fülle geborsten wäre: »Entweder müßt ihr heiraten, oder ihr dürft euch nicht mehr sehen. Was du tust, ist ein Verbrechen.«
»Ein Verbrechen?« erwiderte Lenore erstaunt; »wieso denn?«
»Frag nur dem Gewissen,« war die mit gesenkten Augen gegebene Antwort.
»Mein Gewissen ist aber ganz ruhig.«
»Dann hast du eben keins,« sagte Gertrud hart. »Du lügst und läßt dich belügen. Du bist in der Schlechtigkeit drinnen, da ist keine Rettung. Wie die unreinen Blicke von dem Mann und seine häßlichen Gedanken und die von den andern an dir sind! Du bist ja über und über befleckt. Du weißt es ja nicht, ich aber weiß es.«
Sie stand auf, wobei sie den Stuhl geräuschvoll mit den Kniekehlen zurückstieß und schaute Lenore mit ihren unheimlichen, schwarzen Augen an. »Sprich mir nie wieder davon,« flüsterte sie mit zitternden Lippen, »nie wieder.« Damit ging sie hinaus.
Da empfand Lenore etwas wie Abscheu vor der Schwester. Von einer geheimnisvollen Ahnung bewegt, spürte sie in Gertrud die ihr vom Schicksal bestimmte Widersacherin.