Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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Dritter Theil

Das Zimmer mit den verwelkten Blumen

1

Herr Carovius führte den Vorsatz, den er in der Erbitterung über Lenores Heirat gefaßt hatte, wenige Tage später aus.

Es war Ende März gewesen; er hatte erfahren, daß der alte Freiherr eben aus Berlin zurückgekehrt sei. Er ging hin und ließ sich melden. Es wurde ihm gesagt, der Herr Baron empfange niemand, er möge sein Anliegen schriftlich vorbringen.

Herr Carovius wollte aber seinem Schuldner Aug in Auge gegenübertreten, das war ja gerade sein Traum, und als er bei einem zweiten Versuch wieder abgewiesen wurde, machte er einen gewaltigen Lärm und verlangte, man solle ihn dann wenigstens zur Freifrau führen.

Die Freifrau hatte ihre Musikstunde. Die fünfzehnjährige Dorothea Döderlein, die eine hoffnungsvolle Virtuosin auf der Geige war, spielte mit der Freifrau Sonaten.

Andreas Döderlein hatte ihr Talent schon früh erkannt. Seit ihrem zehnten Jahr hatte sie täglich sechs Stunden üben müssen. Sie hatte verschiedene Lehrer gehabt, die sie alle durch ihre Ungebärdigkeit zur Verzweiflung brachte. Nur vor ihrem Vater duckte sie sich.

Mit Worten voll objektiver Anerkennung hatte Andreas Döderlein der Freifrau seine Tochter empfohlen. Die Freifrau erklärte sich bereit, mit ihr zu musizieren, und Andreas Döderlein sagte zu Dorothea: »Du hast nun eine Gelegenheit, durch Protektion emporzukommen; versäume sie nicht. Die Baronin liebt das Gefühlvolle. Sei gefühlvoll. Manchmal verlangt sie etwas Dämonisches. Tu ihr den Willen. Nach Art reicher Leute hätschelt sie irgendeinen Luxuskummer. Störe sie darin nicht.«

Dorothea war gelehrig.

Sie spielten die Frühlingssonate von Beethoven, als der Lärm auf dem Vorplatz erscholl. Die Zofe kam und flüsterte ihrer Herrin etwas zu. Die Freifrau erhob sich und schritt zur Türe, Dorothea ließ den Geigenbogen sinken und blickte mit etwas erkünstelter Verwunderung um sich, als erwache sie aus einem Traum.

Auf einen Wink der Freifrau gab der alte Diener Herrn Carovius den Weg frei. Mit rotem Gesicht trat er ins Zimmer und machte einen lächerlichen Kratzfuß. Seine Augen verschlangen die seidenen Portieren, den geschliffenen Spiegel, die Kristallvasen, die Bronzefiguren, dabei hatte er den rechten Arm in die Hüfte gestemmt, ein Bein elegant vor das andere gesetzt und sah aus wie ein Provinztanzmeister.

Er schimpfte über die Anmaßung der Domestiken und versicherte die Freifrau seiner Ehrerbietung. Er sprach von seinem guten Willen und vom Druck der Umstände. Als ihn die ungeduldige Miene der Zuhörerin endlich veranlaßte, auf den Zweck seines Besuches zu kommen, zuckte die Freifrau zusammen, denn von dem ganzen Schwall von Worten vernahm sie nichts weiter als den Namen ihres Sohnes.

Mit hauchenden Lauten näherte sie sich Herrn Carovius und packte ihn beim Ärmel. Ihre glanzlos schwarzen Augen wurden kugelrund, der flehentliche Blick darin war Balsam für Herrn Carovius.

Da genoß er sich; da wurde er frech; da wollte er sich an der Mutter für die Hoffart des Sohnes rächen. Er sah, daß die Freifrau der Vorstellung nicht entsprach, die er sich vom Wesen einer Aristokratin gemacht. In seiner Phantasie und Erinnerung lebte sie als eine gebieterische und unzugängliche Erscheinung, nun stand vor ihm eine fette, ängstliche alte Dame. Infolgedessen verlieh er seiner Stimme einen schrilleren Klang, seinem Gesicht einen boshafteren Ausdruck, als er die unglückliche Lage zu schildern begann, in die er durch Eberhard geraten.

Seine Gutmütigkeit sei an allem schuld. Freilich, ohne ihn hätte das Barönlein verhungern oder sonstwie im Elend verkommen müssen, denn mit der moralischen Widerstandskraft sehe es bei dem jungen Herrn windig aus. Aber was habe er davon gehabt? Undank, bitteren Undank.

»Hat mich ausgeplündert bis auf den letzten Heller und dann so getan, als wär's meine verdammte Pflicht gewesen, für Seine freiherrliche Gnaden ins Feuer zu springen,« schrie Herr Carovius. »Ehedem war ich ein vermöglicher Mann, ein Mann, der sich sattessen konnte, ein Mann, der hin und wieder die Annehmlichkeiten des Daseins genoß. Heute bin ich ruiniert. Mein Geld ist hin, mein Haus mit Hypotheken überlastet, meine Seelenruhe beim Teufel. Zweimalhundertsechsundsiebzigtausend Mark ist der junge Herr mir und meinen Geschäftsfreunden schuldig, alles hübsch aufgeschrieben und unterschrieben und bei Zins und Zinseszins summiert. Soll ich mir dafür noch die Tür vor der Nase zuschlagen lassen? Das müssen Sie doch selbst einsehen, Frau Baronin, daß das nicht angeht. Dafür hab ich mir schon ein bißchen Respekt verdient.«

Die Freifrau hatte die Hände zusammengepreßt und erregt vor sich hingestarrt. Jetzt ließ sie sich, in gramvoller Schwäche, auf einen Sessel fallen. Ein Grinsen irrte über das Gesicht des Herrn Carovius; er drehte den Kalabreser zwischen den Fingern, und seine Blicke liefen leer an den Wänden entlang. Da gewahrte er Dorothea Döderlein, die er bis jetzt in seinem Glücks- und Wutrausch übersehen hatte.

Als Herr Carovius eingetreten war, hatte sich Dorothea mit dem Wissen um Diskretion, aber ohne ernstlichen Vorsatz dazu in den entferntesten Winkel des Raumes geschmiegt. Zitternd vor neugieriger Erregung, hatte sie in den gegenüberhängenden Spiegel geschaut und sich so klein wie möglich gemacht, weil sie von ihrem Onkel Carovius, dessen sie sich schämte, nicht erkannt werden wollte.

Sie hielt ihn für einen komischen Sonderling, der ohne Nahrungssorgen, jedoch in ziemlich beschränkten Verhältnissen lebte. Wie er nun die Summe nannte, die ihm das freiherrliche Haus Auffenberg schuldete, erfüllte sie ein verwunderter und freudiger Schrecken, und sie sah ihn plötzlich mit ganz andern Augen an.

Herr Carovius seinerseits hatte Dorothea in den letzten Jahren selten zu Gesicht bekommen. War er ihr begegnet, so war sie hastig vorübergehuscht. Daß sie das Violinspiel lernte, wußte er; zum Grauen oft hatte er das ihm abscheulich klingende Gefiedel auf Flur und Stiege vernommen.

Er fixierte das Mädchen und rief auf einmal aus: »Ein Roß will ich sein, wenn das nicht die Döderleinische ist! Wie kommst du denn daher, Nichtchen? Gehst wohl in die Häuser und produzierst dich? Ist euch die Musik noch nicht genug auf dem Hund, dir und deinem Erzeuger?«

Die Freifrau, sich der Anwesenheit des jungen Mädchens entsinnend, hob den Kopf und sah Dorothea vorwurfsvoll an. Zum erstenmal dünkte es sie, daß die Hilfsquellen versiegt seien, die sie einem Leben der Verlassenheit abgetrotzt; zum erstenmal überlief sie ein Schauder, als sie ihrer musikalischen Betäubungen gedachte.

Sie sagte zu Herrn Carovius, er möge sich einige Tage gedulden, er werde von ihr hören, sobald sie mit ihrem Mann gesprochen. Seine eifrige Erwiderung schnitt sie mit einer Geste ab, die ihn einschüchterte, dann nickte sie auch Dorothea verabschiedend zu, die ihre Geige einpackte, den Kasten in die Hand nahm, einen Knicks machte und ihrem Onkel aus dem Zimmer folgte.

Sie blieb an seiner Seite. Sie gingen zusammen durch die Straßen. Herr Carovius wandte sich bisweilen mit ein paar hämischen Worten an sie. Sie lächelte bescheiden.

Damit begann das wunderliche Verhältnis, das von nun ab zwischen den beiden herrschte.


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