Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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5

So war es nun jeden Abend zwischen den beiden, denn am Tage sahen sie sich kaum.

Stundenlang saß Daniel, ohne sich zu rühren, und brütete.

Er konnte nicht vergessen. Den angesengten, rauchenden Kleidsaum nicht; die Schuhe nicht, an denen Kot von der Straße klebte; das Antlitz nicht mit der verzogenen Oberlippe, die Haare, armselig in ihrem Gewirr, die ängstlich verzogene Braue.

Im Spind unter der Wäsche hatte er die Armspange gefunden, die er ihr geschenkt. Warum hat sie das Schmuckstück dort vergraben? fragte er sich. Der Seelenzustand, in welchem sie das Spind geöffnet und die silberne Spange versteckt hatte, wurde ihm so lebhaft gegenwärtig, daß er mit seinem eigenen verschmolz.

Dann entdeckte er die Harfe ohne Saiten. Er stellte sie in seine Stube, und wenn er sie anschaute, glich sie einen. Gesicht ohne Fleisch.

Bin ich dir zu schwer? tönte es aus der Vergangenheit herüber. Und das andere Wort: ich will deine junggewordene Mutter sein; und dieses: ich bin ja auch eine Kreatur.

Er erinnerte sich an einige alte Briefe von ihr, die er aufbewahrt hatte. Er las sie mit der Aufmerksamkeit durch, mit der man Verträge studiert, in denen es um Gut und Blut geht. Und es waren Stickereien aus ihrer Mädchenzeit vorhanden, deren er sich jetzt versicherte, um sie wie Heiligtümer zu verschließen.

Sie wurde ihm von Tag zu Tag lebendiger. So oft er daran dachte, wie sie dagesessen, wenn er gespielt oder über sein Geschaffenes gesprochen, würgte es ihn im Halse. Und wie sie einst hergekrochen war und die Stirn auf seinen Schenkel gelegt hatte, dieses Bild war vom Schauer des unergründlichsten Geheimnisses umweht.

Es war nicht Schuldgefühl, was ihn so an die Tote schmiedete. Auch nicht Reue oder Selbstvorwurf oder die Sehnsucht, die durch die Empfindung gehäufter Versäumnisse zum Ausdruck kommt. Die Phantasie wehrte sich gegen den Tod. In ihrem schöpferischen Trotz verlieh sie der Hingegangenen eine Wirklichkeit, die sie nie besessen hatte, solange sie als wirkliche Gestalt auf der Erde gewandelt war.

Für Daniel wurde sie erst jetzt zur Gestalt. Dies ist das Wunderbare und das Lasterhafte am Musiker. Ihm gehören die Dinge und die Menschen nicht, während sie sein eigen sind. Er lebt mit Schatten, und nur, was er verloren hat, wird ein Lebendiges. Losgelöst vom Augenblick greift er nach dem, der gewesen ist, nach dem gestrigen Tag und stürmt ungeduldig in den morgigen. Was er in Händen trägt, ist verdorrt, was hinter ihm am Wege liegt, ist in Blüte. Sein Denken ist ein Winter zwischen zwei Frühlingen, dem wahren, der vorüber ist, und dem kommenden, den er nur träumt und, wenn er einbricht, versäumt. Er sieht nicht, er hat gesehen; er liebt nicht, er hat geliebt; er ist nicht glücklich, er war nur glücklich. Gebrochene Augen öffnen sich im Grabe und die lebenden, die hineinblicken, jetzt alles erblicken, alles verstehen, alles verklären und schmücken, erscheinen sich vom Tod und seiner immerwährenden Dauer wie betrogen.

Jetzt wurde Gertrud zur Melodie. Was sie getan und gewirkt, war Melodie. Ihr Dumpfes wurde wach, ihr Schweigen beredt. Einst hatte er sie und Lenore geschaut, im braunen Kleid die eine, im blauen die andere, Moll und Dur, die Endpunkte seiner Welt. Nun stieg das Moll empor gleich der Nacht über der einsamen Erde und hüllte alles in Trauer. Der Schmerz nährte sich an Bildern, die einst alltäglich gewesen waren, nun aber die Leuchtkraft einer Vision bekamen.

Wie sie im Bett gelegen, rechts und links die Zöpfe und das Gesicht wächsern aus dem dunkeln Rahmen geleuchtet hatte. Wie sie eine Schüssel ins Zimmer getragen, eine Nadel eingefädelt, ein Glas an die Lippen gesetzt, einen Schuh am Fuß festgebunden, und welchen Ausdruck das Auge gehabt, wenn es warnte, bat, staunte oder lächelte. Wie unvergleichlich sternenhaft war dieses Auge auf einmal! Immer emporgeschlagen, immer erfüllt, immer gegen ihn gewendet. Unter diesem Blick fand er in einer Dämmerungsstunde das dämonisch rufende Motiv einer B-moll-Sonate; eine Gebärde, deren er sich entsann, es war damals gewesen, als Lenore mit dem Myrthenkranz vorm Spiegel gestanden, gab den Impuls zu dem unterirdisch wühlenden Presto im ersten Satz eines Quartetts, und den zweiundzwanzigsten Psalm, der mit den Worten beginnt: mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, skizzierte er, als er von einem Traum erwachte, in welchem ihm Gertrud in stiller Haltung, unendlich blaß, das Kinn auf die Hand gestützt, erschienen war.

Doch arbeitete er nicht. Was so zu Papier gebracht wurde, drang wie aus fieberhaften Anfällen hervor. In aller Eile kritzelte er Noten hin, in schuldbewußter Eile gleichsam. Er stahl es sich selbst. Töne dünkten ihm Verbrechen. Als die ergreifende Hauptmelodie des Psalms in ihm entstand, zitterte er vom Kopf bis zu den Füßen, und wie von Furien gepeitscht verließ er das Haus, trotzdem es mitten in der Nacht war. Die wiederkehrende Baßfigur des Prestos klang wie ein schaurig-angstvoll gestammeltes: Mensch, halt den Atem an, Mensch, halt den Atem an. Und er hielt den Atem an, voller Angst, indes seine Eingebungen den eisigen Bann durchbrachen, in welchen sie eine leidenschaftliche Verhaltenheit seiner Natur gezwungen.

Denn in immer weiterem Umkreis sah er die Menschheit von sich zurückweichen, und da er sich nicht von der Zeit gefordert fühlte, verschmähte er die Zeit. Es kam dahin, daß er seine Produkte als etwas behandelte, das für die Welt in keinem Sinn bestimmt war, gegen niemand davon sprach und nie den Wunsch hatte, daß jemand von ihnen erfuhr. Je geheimer er sie hielt, je wahrhaftiger wurden sie ihm, und der Gedanke, man könne ein Werk der Musik für Geld hingeben, war ihm allmählich so unsinnig geworden wie der, daß man seine Mutter, seine Geliebte, sein Kind oder eines seiner Gliedmaßen veräußern könne.

Infolgedessen empfand er nur Ekel, wenn er von den geschickten Händlern hörte, die von der Mode hochgetragen wurden. Es graute ihm vor allem, was berühmt war, denn der Ruhm der Mitwelt schmeckte und roch nach dem Gelde. Es graute ihm vor der Wirrnis der Meinungen und Urteile, vor dem Streit über Schulen und Richtungen, vor den herumziehenden Virtuosen aller Zonen und Nationen, dem Lärm, den sie zu entfachen wußten, den Wahrheiten, die sie verkünden ließen, den Lügen, in denen sie plätscherten. Es graute ihm vor Konzertsälen und Theatern, vor dem Geklimper aus den Fenstern der Bürger, vor der falschen Andacht der Menge und ihrer ohnmächtigen Verzückung.

Ihre ganze Musik roch und schmeckte nach Geld.

Er hatte sich die Lebensbeschreibungen der großen Meister angeschafft. Er erfuhr deren Not und Mühsal und kleinliche Umstände, die schale Alltäglichkeit, die zu ihrem unsterblichen Bild nun nicht mehr hinaufreichte. Doch als er eines Tages las, daß Mozarts Leichnam in einem Massengrab verscharrt worden war, schleuderte er das Buch fort und verschwor sich, dergleichen Bücher nie wieder anzufassen. In das Feuer der Vergötterung schlug der beißende Rauch des Menschenhasses; er wollte keinen sehen, er eilte aus der Stadt und hatte nicht eher Ruhe, als bis er sich in der tiefen Abgeschiedenheit eines Waldes vor jedem Menschentritt und -blick geborgen fühlte.

In der Nacht ging er durch die Gassen, stets schnell und mit gesenktem Kopf. Wenn er müde war, landete er in einer kleinen Kneipe, wo er sicher sein konnte, keinen Bekannten zu treffen. Begegnete ihm einer auf der Straße, so grüßte er nicht, sprach ihn einer an, so war er überlaut und sonderbar in seinen Antworten und entfernte sich mit einem kaustischen Witz.

Die Stube zu betreten, in der Philippine mit dem Kind hauste, hatte er im Anfang nur mit Widerwillen vermocht. Später rührte ihn an dem Kind die Bewegung und die Gestalt, er kam ein paarmal am Tage, immer nur für wenige Minuten, nahm es auf den Arm, ließ sich von seinen Händchen betasten, duldete, daß es an seiner Brille zerrte und lauschte verwundert auf sein Lallen und Plappern. Philippine stand währenddessen in der Ecke, hatte die Augen niedergeschlagen und war schweigsam. Da wurde er sich drückend der Verpflichtung bewußt, die ihm durch die rätselhafte Treue dieser Person auferlegt wurde und die er auf keine Weise einlösen konnte, auch quälte es ihn, das Kind so mutterlos, so seltsam verlassen zu sehen, der helle Blick, die ausgestreckten Ärmchen quälten ihn, er hatte Furcht vor dem in der Kinderbrust noch tief schlummernden Gefühl, und es trieb ihn hinaus.

Eines Morgens im August erhob er sich bei Sonnenaufgang, bereitete sich sein Frühstück in der Küche selbst, und als er fertig war, griff er nach seinem Stock und verließ das Haus. Er wollte zu Fuß nach Eschenbach wandern.

Er wanderte den ganzen Tag mit kurzen Rasten. Nur während der heißesten Mittagszeit erbat er sich von einem Bauern, der ihn mit seinem Leiterwagen einholte, die Erlaubnis, ein Stück mitfahren zu dürfen.

Er hatte keine bestimmte Absicht, keinen Plan. Etwas Dunkles, dem er nicht widerstehen konnte, zog ihn in die Heimat.

Als er endlich das Städtchen erreicht hatte, war es tiefe Nacht und der Mond schien. Die Gassen waren wie ausgestorben. Die Fenster am Haus der Mutter waren alle schwarz, er setzte sich auf die oberste Stufe am Tor hin und es war ihm, als höre er die Atemzüge der alten Frau und des jungen Kindes, das sie behütete, durch die Fugen der Tür dringen.

Es war ihm sonderbar, zu denken, daß die Mutter von seinem Hiersein nichts wußte. Hätte sie darum gewußt, sie hätte das Tor aufgesperrt und ihn erschüttert angesehen, und wenn er nicht hätte reden wollen, hätte er den Kopf in ihren Schoß legen und still weinen müssen. Etwas anderes war nicht möglich; zu reden war nicht möglich; die Furcht aber, er werde dennoch reden, er werde erzählen müssen, packte ihn so heftig, daß er beschloß, sich wieder auf den Rückweg zu begeben, ohne die Mutter und sein Kind gesehen zu haben. Die eigentümliche Unruhe, die ihn hergetrieben, war beschwichtigt, seit er im Schatten des Häuschens saß.

Aber weil er sehr müde war, versank er in Schlaf. Er träumte, das Kind und die Greisin stünden vor ihm, und jenes trug Trauben in der Hand, indes diese eine Schaufel hielt und mit trauriger Miene die Erde aufgrub. Eva dünkte ihm noch viel schöner als vor einem Jahr, und er fühlte zu dem Kind eine unbezwingbare, schmerzhafte Liebe, die in einer wunderlichen Beziehung zu dem Tun der Mutter stand. Je länger sich die alte Frau mit dem Aufschaufeln der Erde abmühte, je schwerer wurde ihm ums Herz, aber er konnte nichts sagen, und es war ihm, als ob aus seinem Innern ein herrlicher Gesang ströme, dessengleichen er nie zuvor gehört. In dem Entzücken darüber wachte er auf; zuerst glaubte er den Gesang noch zu vernehmen, doch es war nur das Plätschern des Wassers am Wolframsbrunnen.

Der Mond stand hoch am Himmel. Daniel ging hinüber zum Brunnen, da kam der Nachtwächter daher, blies sein Pfeifchen und sang: »Hört ihr Herrn und laßt euch sagen, unsre Glock hat zwei geschlagen.« Er wurde des einsamen Menschen am Brunnen gewahr, stutzte, fuhr aber dann in seinem Gesang fort.

Schon oft, als Kind und als Jüngling, hatte Daniel gelesen, was auf dem Sockel der Wolframsfigur geschrieben war. Heute las er die vom Mond bestrahlten Worte mit ganz andern Augen.

Vom Wasser kommt der Bäume Saft,
Befruchtung gibt des Wassers Kraft
aller Kreatur der Welt.
Vom Wasser wird das Aug erhellt,
Wasser wäscht manche Seele rein,
daß kein Engel mag lichter sein.

Er tauchte seine Hände in das Becken, strich damit über seine schlaftrunkenen Augen, und nachdem er noch einen Blick auf das Haus der Mutter geworfen, wandte er seinen Fuß gegen die Landstraße.

Im Feld war es überall zu feucht, als daß er dort hätte ruhen können. Bei einem alleinstehenden Bauernhaus befand sich ein Heuschober, und er ging hinein und legte sich nieder.


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