Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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6

Jeden Sonntag mittag aß Andreas Döderlein bei seinen Kindern. Er liebte eine saftige Schweinskeule, einen Salat in Eierbrühe und eine Torte mit Zuckeraufguß. Der alte Jordan, der an den sonntäglichen Mahlzeiten teilnehmen durfte, ließ die einzelnen Bissen auf der Zunge zergehen. In seinem ganzen Leben waren ihm so leckere Dinge nicht vorgesetzt worden, und bisweilen warf er einen verwunderten Blick auf Daniel.

Ins Gespräch mischte er sich selten. Wenn die Teller abgetragen wurden, erhob er sich und ging in seine Kammer hinauf.

»Höchst sonderbarer Greis,« sagte eines Sonntags Andreas Döderlein, indem er sich die Zähne stocherte.

»Mit dem hat man auch seine liebe Not,« schalt Dorothea; »ist ein unverbesserlicher Topfgucker; zehnmal am Tag kommt er in die Küche, steckt die Nase in die Luft, fragt, was es zu essen gibt, und steht im Flur herum, daß die Gäste über ihn stolpern.«

Andreas Döderlein gab ein bedauerndes Brummen von sich.

»Wie sieht es denn eigentlich mit deinen Finanzen aus, mein Sohn?« wandte er sich leutselig an Daniel. »Möchtest du nicht zur Verbesserung deiner wirtschaftlichen Lage neben dem Organistenamt eine Stelle an unserer Anstalt übernehmen? Herold geht in Pension, er ist über fünfundsiebzig und ist den Anforderungen nicht mehr gewachsen. Mein Fürwort genügt, dir seine Stelle zu sichern. Dreitausend Mark jährlich, Versorgung der Witwe nach zehnjähriger Dienstzeit, Stundengelder, ich denke, das ist verlockend. Oder nicht?«

Dorothea lief jubelnd zu ihrem Vater, umschlang seinen ungeheuren Rumpf und küßte ihn auf die schlotternde Backe.

»Keinen Dank, mein Kind,« wehrte der Olympier, »euch zur Seite zu stehen ist meine selbstverständliche Pflicht.«

Was sitzt da für ein aufgequollener fremder Mensch? fuhr es Daniel durch den Kopf; was will der Mensch von mir? warum dringt er in meine Stube und sitzt an meinem Tisch? warum duzt er mich und haucht mich mit seinem Atem an? Er schwieg.

»Ich begreife ja, lieber Sohn, daß du deine Muße nicht gern aufgibst,« fuhr Döderlein mit verstecktem Sarkasmus fort, »aber wer von uns kann völlig seiner Neigung leben? Der Alltag ist das Mächtige; Ikarus muß zur Erde stürzen. Jetzt, wo dem Weib einem freudigen Ereignis entgegensieht, gibt es doch vernünftigerweise kein Schwanken.«

Dorothea warf Daniel einen bösen Blick zu.

»Ich will mir's überlegen,« sagte Daniel, erhob sich und ging aus dem Zimmer.

»Es ist ihm unbequem,« grollte Dorothea; »seine Bequemlichkeit geht ihm über alles. Aber ich werd ihn schon dazu bringen, Vater; tu nur, was du tun kannst, er wird sich nicht sperren.«

Somit lag es am Tage, daß Daniel der Geheimnisvolle und Unergründliche längst nicht mehr für sie war. Sie hatte ihn geöffnet, sie hatte ihn erraten, nach ihrer Weise freilich. Es war viel einfacher gewesen, als sie gedacht, und sie zürnte ihm, daß er ihrer Neugier ein so nahes Ziel gesteckt hatte. Was sie für interessant, für aufregend, für berauschend gehalten, hatte sich als etwas ganz Simples und Gewöhnliches entpuppt; es waren gar keine Reize mehr da, und das einzig Spannende lag noch darin, durch ihre Jugend, durch ihre Sinne eine ausschließliche Herrschaft über ihn zu erlangen.

Daniel spürte es, daß sie enttäuscht war; er hatte Angst davor gehabt. Die Angst wuchs, denn alles, was er tat und sagte, vermehrte ihre Enttäuschung sichtlich. Aus Angst wurde er nachgiebig, wo er früher unerbittlich gewesen wäre. Der Unterschied der Jahre machte ihn geduldig und jeder Einrede fügsam; er fürchtete, ihr nicht so viel Liebe geben zu können, wie sie in ihrer Frische und natürlichen Derbheit begehrte, deshalb verzichtete er auf manches, was er vordem nicht hätte entbehren, ertrug er manches, was er vordem nicht hätte ertragen können.

Es bedurfte nur einer Stunde in der Nacht, und Dorothea hatte ihm die Zusage abgeschmeichelt, daß er die Stelle des alten Herold übernehmen werde. Er, so karg an Worten wie in der Äußerung von Gefühlen, erlag dem kätzchenhaften Anschmiegen, dem übermütigen Spott, der prickelnden Hurtigkeit eines jungen Leibes. Da walten dunkle Mächte, die zwischen Mann und Weib Abhängigkeiten stiften; da ist nichts berechenbar, nichts mehr dem angeborenen Wesen gemäß, da kann, in einer Stunde der Nacht, die heiligste Wahrheit eines Lebens zur Lüge umgebogen werden.


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